Neuburg
Die Fremdheit der vertrauten Welt

Mit Grass, Polt und Juli Zeh in einer Reihe: Roman Ehrlich erhielt gestern in Neuburg den Toller-Preis

23.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:09 Uhr

Nach Afghanistan war er gereist, um in seinem Fotobuch "Theater des Krieges die künstliche Medialität oder Inszeniertheit des Krieges erfahrbar zu machen, "nicht als journalistische Reportage, sondern als Kunst". In Neuburg erhielt Roman Ehrlich gestern den Ernst-Toller-Preis für seine Werke. - Foto: Hammerl

Neuburg (DK) Auf den ersten Blick wirkt Roman Ehrlich nicht wie ein ausgesprochen politischer Schriftsteller. Dass die Jury ihm dennoch den Ernst-Toller-Preis verliehen hat, erklärte Jurymitglied Kirsten Reimers aus Hamburg mit dem berühmten zweiten Blick.

Ehrlich sei ein "genauer Beobachter von Menschen und Situationen", erzähle mitten aus der Gegenwart, aus Alltagsleben in einer Zeit der Umbrüche. Natürlich ist Kunst, die sich mit Veränderungen der modernen Arbeitswelt, mit dem Einfluss moderner Medien auf den Umgang miteinander und von Folgen medialer Inszenierungen auf die Realitätswahrnehmung befasst, politische Kunst.

Denn der in Aichach geborene und in Neuburg aufgewachsene Autor, der heute in Berlin lebt, macht seinen Lesern in kühl-sachlicher und detailgenauer Sprache die Welt fremd, wie Laudator und Schriftstellerkollege Matthias Nawrat anmerkte. Fremd insofern, als er banale Handlungen und kleine, alltägliche Begebenheiten, die seine Figuren aus der Bahn werfen, ad absurdum führt. So zwinge Ehrlich den Leser, sich mit sich und der Welt auseinanderzusetzen. "Nicht das Fremde macht den Menschen Angst, sondern gerade das Bekannte, das sich zu einem unzugänglichen Wahrnehmungsgehalt verschlossene Vorgewusste", postulierte Nawrat. Die wirkliche Erfahrung des Fremden hätte aus seiner Sicht dagegen die Macht, "dieses eingeschlossene Unwissen, das sich als sicheres Wissen tarnt, aufzusprengen". Genau diese Kraft spricht er Ehrlichs Literatur zu. Somit widerlege Ehrlich Nietzsches Vorhersage, Ethik würde von Ästhetik verdrängt, Kunst nur noch schöne Oberflächen produzieren. Der 33-Jährige dagegen suche die Grenze, hinter der das Niemandsland beginne, wo es keine sicheren Wörter mehr gebe. Seine Werke brächten den Leser so näher an die Wirklichkeit. Und das ganz ohne Gefühlsduselei, die allen Dichtern der Postmoderne widerstrebt. Gefunden hat der Laudator jedoch etwas "sehr Kostbares, weil zutiefst Menschenfreundliches und dem Nihilismus Trotzendes: Zugewandtheit".

Den mit 5000 Euro dotierten Ernst-Toller-Preis, der für besondere literarische Leistungen im Grenzbereich zwischen Literatur und Politik verliehen wird, erhielt Ehrlich für seine drei bisher erschienenen Werke, den Roman "Das kalte Jahr", den Erzählband "Urwaldgäste" und das Fotobuch "Das Theater des Krieges", das das Alltagsleben im Nato-geführten Militärcamp in Afghanistan zwischen Langeweile und Todesangst in klare einfache Sätze fasst.

Beinahe zum Kriegsschauplatz - so die deutsche Übersetzung des englischen Begriffs "Theatre of War", der Pate für den Buchtitel stand - ließ Ehrlich das Neuburger Stadttheater werden. Doch seine ironisch bis selbstironische Charakteristik der Kleinstadt als "Ort nachhaltiger Feindseligkeit gegen freie Gedanken und unkonventionelles Leben" fiel so humorvoll aus, dass die Neuburger nicht nur schmunzelten, sondern sogar hörbar lachten.

"Ich glaube nicht an eine böse Natur des Menschen, zitierte Ehrlich Toller, der das unfassbare Leid, dass der Mensch dem Menschen zufüge, auf einen Mangel an Fantasie und Trägheit des Herzens zurückführte. Er selbst, so Ehrlich, sei niemals Soldat gewesen, ihm reichten literarische Kriegserfahrungen anderer, um zur Überzeugung zu gelangen, nie Soldat zu werden. Aber Tollers Kriegserfahrungen und die seiner eigenen Vorfahren - der vertrieben Großmütter und der Militärdienst seines Vaters - hätten in mehrfacher Hinsicht Anteil daran, dass er in Neuburg auf der Bühne stehe, um den Preis entgegenzunehmen.

Am Ende der Rede nannte er Neuburg den Ort des Aufwachsens, der Entdeckung seines Literaturbedürfnisses und der ersten Klasse, die die Grundlagen vermittelt habe, und wohin er dankbar zurückgekehrt dafür sei, "mit dem Schriftsteller Ernst Toller Bekanntschaft gemacht zu haben".