München
Volksgesundheit über alles

In München diskutieren Wissenschaftler über die bayerische Ärzteschaft im Nationalsozialismus

26.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:44 Uhr

Sündenfall der Ärzteschaft: Annette Eberle, Michael von Cranach, Max Kaplan und Gerrit Hohendorf diskutieren über Medizin und Nationalsozialismus in München. - Foto: Connolly

München (DK) Er ist der Halbgott in Weiß, der schon alles richten wird - wohl kaum einem Beruf wird mit einem derart hohem Erwartungshorizont begegnet wie dem des Arztes. Ein Vortragsabend in München mit Diskussion riss den tiefen Sündenfall der Bayerischen Ärzteschaft während der NS-Herrschaft an. Anlass der Veranstaltung war das neu erschienene Buch der an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München lehrenden Historikerin Annette Eberle. Es trägt den sperrigen Titel "Die verfasste Bayerische Ärzteschaft und die Praxis der Medizin im Nationalsozialismus" und war vom bayerischen Ärztetag initiiert worden.

Das Thema ist von "höchster Brisanz", wie Hausherr Winfried Nerdinger vom NS-Dokumentationszentrum betont. Das hässliche, weil schönfärbende Wort "Euthanasie", das als guten Tod benennt, was besser "Mord" heißen sollte, erzwungene Sterilisierungen und Abtreibungen, Beihilfe zum Massenmord sowie die Anwendung teils kruder Methoden unter dem Siegel der Rassen- und Sippenforschung sind die am weitesten verbreiteten Vorwürfe an Ärzten im Dritten Reich. Die neu vorliegende Forschungsarbeit liefert hierzu strukturelle Analysen. So ordneten sich bayerische Mediziner nach dem Machtwechsel willfährig und postwendend dem neuen System unter. Der auf dem Podium sitzende Mediziner und Euthanasie-Forscher Michael von Cranach resümiert über die erschreckende Kälte, mit welcher eine humanistisch hochgebildete Elite unerschüttert ihr Fähnchen in den neuen Wind hing: "Die Mehrheit wurde nicht verführt, sondern ergriff die Chance, lange gehegte Gedanken zu verwirklichen." Der Aufruf, jüdischen Medizinern die Berufsausübung zu verbieten, erging schon bei der ersten Verlautbarung der bayerischen Ärzte im Nationalsozialismus, welche im Münchner Lokal "Bauerngirgl" am 21. März 1933, am "Tag von Potsdam", abgefasst wurde. Unter den bayerischen Protagonisten des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes waren wohlbekannte Gesichter wie der auf Landes- wie Regionalebene gleichermaßen aktive Nürnberger Arzt Alfons Stauder. Schon früh trat auch der spätere Reichsärzteführer Gerhard Wagner, den die NS-Presse als den "Begründer der Rassenhygiene" feiern sollte, in Erscheinung. Er beerbte als Vorsitzender des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes den Ingolstädter Arzt und Verleger Ludwig Liebl (1874-1940), der den Bund 1929 maßgeblich initiiert hatte. Liebls Tochter Elin heiratete übrigens 1937 den Verlagsleiter ihres Vaters, den späteren DONAUKURIER-Herausgeber Wil-helm Reissmüller.

Der Einschätzung von Forscherin Annette Eberle nach war Liebl durch Wagner nach dreijähriger Amtszeit verdrängt worden, weil unter ihm als eher schwache Persönlichkeit der Ärztebund dahindümpelte und sich in internen Streitereien aufrieb. Zudem sollte wohl eine stärkere Ausrichtung auf München erfolgen. Das Selbstverständnis des Ärztebundes in der NS-Zeit als Kampforganisation, die komplizierte Verschränkung von Staat, kassenärztlicher Vereinigung und Partei sowie die Unterordnung nach dem Führerprinzip sorgten dafür, dass der machtbewusste Gerhard Wagner bald Schlüsselstellen mit seinen Leuten besetzen konnte. Für die NS-Medizin stand die "Volksgesundheit" an erster Stelle, was den Ausschluss von politisch, rassisch oder ökonomisch problematischen Patienten aus der medizinischen Fürsorge zur Folge hatte. Ein schreckliches Beispiel hierfür ist der 1942 aus dem bayerischen Innenministerium ergangene Hungererlass, der die systematische Ermordung von kranken Menschen durch Mangelernährung zum Ziel hatte, während ihre Rationen arbeitsfähigen Patienten zugeteilt wurden.

Warum gerade Ärzte so willfährig eine menschenverachtende Mord-Medizin austüftelten, steht als großes Fragezeichen über dem gut besuchten und in der Diskussion lebhaften Abend in München. Michael von Cranach betont, wie fassungslos es ihn noch nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Thematik mache, dass sich kein Mediziner nach dem Krieg von seinem Handeln distanziert habe, und kommt zum nachdenklichen Schluss: "Ärzte wurden und werden in einer unglaublich hierarchischen Struktur sozialisiert." Es gilt also, weiter zu lernen an den Erkenntnissen der Forschung über die NS-Zeit. Das ist bitter und schwer, aber wichtig.