München
Studentenjux mit tieferer Bedeutung

Sechseinhalbstündige Urlesung von Elfriede Jelineks "Rein Gold" im Prinzregententheater

02.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:19 Uhr

München (DK) Wenn Richard Wagner Musikwerke bis zu sechs Stunden schrieb, dann kann ich den Bayreuther Meister locker noch toppen, dachte sich vermutlich Elfriede Jelinek und setzte sich wohl ohne Pause und Erholung an ihre Schreibmaschine, um ein neues „opus magnum“ zu schaffen. Schließlich muss sie ja als Literatur-Nobelpreisträgerin auch ihrem Ruf weiterhin treu bleiben, Dramatisches und Prosaisches ruhelos und im Schnelltempo zu verfassen. 129 prall beschriebene Seiten lieferte sie Opernchef Nikolaus Bachler ab, der sie um einen Programmheftbeitrag zur Neuinszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ gebeten hatte. Das Ergebnis, „Rein Gold“ betitelt, ist ein kruder Parforceritt quer durch Wagners Tetralogie und eine schier endlose Suada mithilfe aller Kapitalismus-Schelten von Karl Marx und Max Stirner bis zu Bert Brecht. Angereichert mit zahlreichen mit heiligem Zorn geschriebenen, aber ausufernden Exkursen über kriminelle Steuerparadiese und die Raffgier von Politikern, über die Ausbeutung der Frauen und das Elend in der Dritten Welt, über die Banken-, Euro- und EU-Krise mitsamt vielen anderen Aktualitäten mehr.

Doch was soll mit solch einem bestellten Text, von der Autorin „Bühnen-Essay“ genannt, geschehen, dessen theatralische Umsetzung nicht nur Wagnersche „Ring“-Ausmaße sprengen würde, sondern letztlich auch unspielbar ist? So etwas ist nur als Parodie auf Wagner und auf Jelineks Schreibwut möglich, entschied der Regisseur Nicolas Stemann. Und er setzte statt einer Uraufführung eine Urlesung im Münchner Prinzregententheater an, die trotz vieler Durchhänger so manche intellektuelle Faschingsgaudi mühelos in den Schatten stellte.

Als Mischung aus Wohnzimmer aus den 1950er Jahren mit abgewetztem Sofa und einem improvisierten Hightech-Tonstudio von heute mit Klavier, Gitarren, Schlagzeug und einer Unmenge von – überflüssigen – Mikrofonen und Kabeln ist die Bühne bestückt. Zwischen all diesen Utensilien wandern neun Schauspielerinnen und Schauspieler (darunter auch die Salzburger „Jedermann“-Buhlschaft Birgit Minichmayr) hin und her, um die jeweils 20 bis 40 Seiten langen Monologe von „Papa Wotan“ und seinem toughen „Töchterchen Brünnhilde“ aneinandergereiht vorzutragen. Im Stehen, Sitzen und Liegen, einzeln oder im Doppel-, Dreier- und Viererpack werden die Texte genuschelt und gebrüllt, geflüstert und herausgeschrien oder (von Ex-Fassbinder-Star Irm Hermann) weihevoll rezitiert.

Alberich latscht derweil mit Schwimmflossen durchs Geschehen, Mime zaubert den Tarnhelm per Video herbei, emsige Handwerker errichten mit Legosteinen Walhall, und geknechtete Zwerge schleppen Torfsäcke, um den Ring in geweihter Erde zu versenken. Dazu künden Jelineks ausufernde, in ellenlangen Assoziationsketten sich verlierende Monologe vom Klassenkampf und anderen Dingen, garniert mit Kalauern wie: „Wotan hat mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.“

Und die Rheintöchter im prallen Mädels-Outfit schmettern „Wagalaweia“ dazu, gefolgt von einem 50-köpfigen Jugendorchester, das den Walkürenritt als schräge Einlage über die Rampe donnert. Klar, dass ein Jelinek-Double dabei nicht fehlen darf, das wild entschlossen neue Texte in die gute alte Olivetti-Schreibmaschine hämmert. Und wer bei diesem Mummenschanz den Überblick verliert, dem überreichen wuselige Regieassistentinnen die Inhaltsangabe von Wagners „Ring“, was bei dieser Kasperliade mit Tiefgang freilich auch nicht viel nützt.

Ein Marathon an Jelinekscher ebenso satter wie teilweise auch geschwätziger Gesellschaftsschelte mit köstlichen Wagner-Parodien und viel Studentenjux ist dieses „Rein Gold“. 129 Seiten auf gut sechseinhalb Stunden ausgewalzt. Hojotoho, hojotoho – bis im Zuschauerraum des Prinzregententheaters kaum mehr jemand saß, die Texte zum Schluss im Reißwolf landeten und die Vögel am Morgen schon zu zwitschern begannen.