München
Operngemälde in tiefem Schwarz

Jubel für Calixto Bieitos "Boris Godunow"-Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper in München

14.02.2013 | Stand 03.12.2020, 0:30 Uhr

Sensibles Rollenporträt: Alexander Tsymbalyuk ist Boris Godunow in Calixto Bieitos radikaler Neuinszenierung - Foto: Hösl/Staatsoper

München (DK) Calixto Bieito ist eigentlich ein Garant für Theaterskandale. Gerne reichert er gängige Repertoire-Opern mit Oralsex, Kindermord und Leichenschändung an. In Berlin etwa ließ er in Carl Maria von Webers „Freischütz“ den Hauptdarsteller das halbe Stück lang nackt agieren. Daraufhin erließ die Komische Oper eine Altersfreigabe von 16 Jahren.

Schwer zu sagen, was nun geschehen ist: Aber in München scheint der Katalane Kreide gefressen zu haben, er gibt den Wolf im Schafspelz. Weit und breit ist kein Skandal in Sicht, im Gegenteil: Das Münchner Publikum applaudierte nach der Premiere von Modest Mussorgskys Oper „Boris Godunow“ dem Theater-Berserker, viele brüllten sogar „Bravo“.

Radikal ist der Ansatz von Calixto Bieito dennoch. Denn der 49-Jährige hat das in Russlands düsterster Epoche spielende Drama am beginnenden 17. Jahrhundert ins Krisen-Europa der Gegenwart übertragen. Nirgends wird das so deutlich, wie am Beginn der Oper: Ein von Polizisten bedrängter Demonstrationszug soll dem neuen, immer noch zaudernden Herrscher zujubeln: Boris Godunow. Was die manipulierten Massen sich wünschen, wird bald klar, als aus dem Dunkel und den Nebelschwaden die ersten Plakate ragen: Man sieht die Köpfe von Berlusconi, Putin, Sarkozy, George Bush und anderen Staatsführern.

Bieito hat das Thema der Oper geschickt in die Gegenwart übertragen und dabei Zarenbärte, Ikonen und Bojarenkitsch hinter sich gelassen. Es geht um ewige Themen: um die Schuld der Herrschenden und das zermürbende schlechte Gewissen. Um die nagende Angst vor der Rache des Volkes, das man irgendwann vielleicht nicht mehr unterjochen kann. Der von Selbstzweifeln zerfressene Boris wird in den Wahnsinn getrieben, weil er den rechtmäßigen Thronfolger Dimitrij angeblich ermorden ließ.

Die panische Angst liegt wie ein Fluch über dem gesamten Musikdrama. Bieito hüllt alle Szenen in Dunkelheit, manchmal wabert Nebel über die Bühne. Das Herrscherhaus ist eine Art Stahlverlies, ein hermetisch abgeriegeltes Sicherheitsgefängnis (Bühne: Rebecca Ringst) mit Luxusausstattung. Und allgegenwärtig ist brutale Gewalt.

Dieses Meisterwerk ist wahrscheinlich die bedrückendste, pessimistischste Oper aller Zeiten. In München ist sie sogar noch etwas düsterer. Denn der scheidende Generalmusikdirektor Kent Nagano hat sich für die kürzere Urfassung entschieden, in der Frauenstimmen eine noch geringere Bedeutung haben und dunkle Bassstimmen vor einem abgründigen Orchestersatz dominieren. Wenn das Volk den neuen Herrscher feiert, hört man im Orchester dissonante Glockenspiele und unheilschwangere Kontrabässe toben. Nie hat Triumph so deprimierend geklungen.

Der kargen Bildsprache auf der Bühne entspricht Kent Naganos klarer, zupackender, schnörkelloser Dirigierstil. Gerade dieser direkte, fast unromantische Zugriff macht diese dunkle Musik so markerschütternd.

Nagano hat vorzügliche Sänger zur Verfügung – und einen echten Star: Alexander Tsymbalyuk singt die Partie mit oppulenter, weicher, enorm wohlklingender Stimme. Er ist als Boris Godunow die schönste Fehlbesetzung, die man sich vorstellen kann. Denn anders als der Boris in der Oper und in der Geschichte, ist er ein junger Beau, dem man den frühen Tod aus Gewissensqualen eigentlich kaum abnimmt. Aber Tsymbalyuk spielt den psychischen Zerfall wunderbar schlicht.

Weitere glänzende Sänger bietet die Inszenierung auf: Gerhard Siegel etwa als zwielichtiger Fürst Schulskij mit quäkendem Tenor, Anatoli Kotscherga (Pimen) verfügt über einen fülligen Bass, Kevin Conners spielt den Gottesnarren eindrucksvoll tragikomisch und Sergey Skorokhody (Grigorij) singt mit strahlendem Heldentenor.

Gegenpol zu all diesen fantastischen Sängern ist der fast immer gegenwärtige, grandiose Chor der Staatsoper. Er verkörpert das Volk: normale Menschen in allen Facetten, arm, reich, elegant, langweilig, exzentrisch. Sie sind wie wir, die schwer zu steuernde Manövriermasse der Mächtigen. Die eigentliche Hauptperson. Und die ewig Betrogenen.