München
Kapitalismuskritik als fetzige Comedy

Virtuose Inszenierung: Jessica Glause bringt Thomas Köcks "paradies fluten" auf die Bühne des Münchner Volkstheaters

26.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:52 Uhr
Sprachfluten in einem maßlosen Text: „paradies fluten“ von Thomas Köck dreht sich um die Klimakatastrophe, die Geschichte von Kolonialismus und Ausbeutung und Flüchtlinge. −Foto: Andrea Huber

München (DK) Stolzer Träger des Osnabrücker und des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises (2014), des Kleist-Förderpreises und des Autorenpreises der österreichischen Theaterallianz (2016) ist der 30-jährige, im oberösterreichschen Steyr geborene Thomas Köck, der mit seinen unorthodoxen Schauspielen zu den großen Zukunftshoffnungen des deutschsprachigen Theaters zählt.

Nach den erfolgreichen Stücken "Jenseits von Fukujama" und "Isabelle H." nun "paradies fluten" im Münchner Volkstheater als eine in immenser Sprachflut ohne Punkt und Komma abgespulte Anklage gegen den Kapitalismus und den Raubbau des Menschen an der Natur.

In einer Tour de Force geht's hier von der gnadenlosen Gewinnmaximierung der Großkonzerne und der Raffgier der Banken über die Ausbeutung des Proletariats, soziale Verwerfungen und Jugendarbeitslosigkeit gestern und heute bis zur europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik und dem Problem der Umweltverschmutzung und des Klimawandels. Ein aktueller Rundumschlag, eingebettet in die europäische Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts durch die Kautschuk-Gewinnung in Brasilien und den Export dieses Rohstoffes an die Autoindustrie. Als Gegenleistung für diese lukrative Ausbeutung der Naturressourcen gab's für die Bewohner des Amazonas-Gebietes dann das wahnwitzige Geschenk eines Opernhauses mitten im Urwald, um den "Indianern" nach Kolonialherrenart zu zeigen, worin die Wurzeln der Kultur bestehen.

Eine zwar engagierte, letztlich jedoch sehr papierne Volkshochschullektion schrieb Thomas Köck mit diesem "paradies fluten". Doch hätte Jessica Glause diese Kapitalismusschelte mitsamt dem Szenario der Umweltzerstörung nicht in solch eine virtuose Inszenierung im Volkstheater gepackt, dieses Stück könnte man als zähe Kritik an der Hybris des "weißen Mannes" und dessen Zerstörung von Natur und Mensch in der Dritten Welt und zu Hause abtun. Aber die 37-jährige Regisseurin packte diesen sperrigen Text in eine furiose Comedy, die mitreißt.

Da wirbeln die neun Schauspielerinnen und Schauspieler (allen voran Staycian Jackson, Oleg Tikhomirov, Jakob Gessner, Jonathan Müller und Leon Pfannenmüller) in wunderschön-vogelwilden Faschingskostümen (von Aleksandra Pavlovic) wie köstlich aufgestylte Fantasiegestalten und Furcht erregende Kolonialzombies über die Bühne, verheddern sich ganz symbolisch in den Seilen der Hybris ihres europäischen Sendungsbewusstseins und zeigen in rasant abschnurrenden Show-Einlagen die ganze Diskrepanz zwischen der kaum zu bremsenden Vitalität der Indios und der dümmlichen Arroganz der europäischen "Heilsbringer" als Kautschuk-Barone.

Der Idealfall einer fetzigen Theatersause als historischer Bilderbogen vor allem für Jugendliche über das Wesen und die Folgen des Kolonialismus im 19. Jahrhundert und die Ursachen der Apokalypse in ferner (oder doch schon naher) Zukunft ist diese Aufführung auf jeden Fall. Dies alles begleitet von Joe Masi, Manu Rzytki und Tom Wu mit coolen Kompositionen und Liedern, die zu dieser aufklärerischen Horrorgaudi zwischen dem ewigen Kapitalismus und dem Weltuntergang bestens passen.

 

Die nächsten Vorstellungen sind am 13. und 19. Juli. Karten unter Telefon (089) 523 46 55.