München
Irritierende Ansichten

Die Münchner Pinakothek der Moderne zeigt mit "Distant Realities" künstlerische Fotografie im digitalen Zeitalter

19.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:09 Uhr

Absurde Orte, zufällige Aufnahmen: Der belgische Künstler Mishka Henner arbeitet mit Bildern, die er im Netz findet, wie hier Aufnahmen eines Online-Kartendienstes. - Foto: Mishka Henner

München (DK) Fotografien sorgen dafür, dass die Welt immer kleiner wird. Millionen von Bildern werden täglich in sozialen Netzwerken hochgeladen, quer über den Erdball kommunizieren Menschen per Foto miteinander. Zugleich machen die digitalen Angebote uns zu Voyeuren - oft ohne dass Täter und Opfer sich ihrer Rolle voll bewusst sind. "Ist Fotografie heute überhaupt noch das, was der Betrachter zu kennen meint und zu sehen glaubt" - so die Frage von Inka Graeve Ingelmann, Leiterin der Sammlung "Fotografie und Neue Medien" an der Pinakothek der Moderne. Antworten darauf sucht ihre Ausstellung "Fotografie heute - Distant Realities" (ferne Wirklichkeiten).

Gezeigt werden nicht einfach Fotos, Bild für Bild an die Wand gehängt, sondern Arbeiten, die Fotografien digital verarbeiten, verfremden, kombinieren. Zum Teil sind es vorgefundene Aufnahmen, etwa aus "Google Streetview", die der Belgier Mishka Henner im Internet sucht. Sein Thema sind Un-Orte wie Straßenkreuzungen, Bushaltestellen oder Straßenböschungen, wo in Italien oder Spanien Prostituierte auf ihre Kunden warten. Sie wurden zufällig aufgenommen, als Google diese Landstriche dokumentierte und ins Netz stellte. Ein Augenblick im Leben dieser Frauen wurde "eingefroren", weltweit publiziert, und durch den Künstler werden sie zu Dokumenten des Kapitalismus und seiner sozialen Ränder.

Gesellschaftlichen Wandel hält eine wandgroße Fotoarbeit der israelischen Künstlerin Ilit Azoulay fest, indem sie die Verwandlung eines Sanatoriums in ein Luxushotel als Collage zeigt. Vergangenheit und Gegenwart, sozialer Treffpunkt und Luxussanierung prallen aufeinander, Spiegelungen und Zierrat in den dargestellten Räumen entpuppen sich bei genauem Hinsehen als Anspielungen auf die Gefangenschaft israelischer Soldaten. Um vorgebliche Tatorte geht es dem Ukrainer Mykola Ridnyi, der in seinen Aufnahmen von Straßenszenen Menschen und Orte nachträglich rot markiert, als handelte es sich um Fotos von Überwachungskameras, die potenzielle Attentäter, Opfer und Schauplätze von Verbrechen dokumentieren.

Die weltweite Verunsicherung durch Terror ist ebenfalls ein Thema in den Fotos der Amerikanerin Erin Shirreff, die analoge Aufnahmen des New Yorker UNO-Gebäudes zu Video-Sequenzen zusammensetzt. Je nach Belichtung wird die Szene verfremdet, Tageslicht und Wetter scheinen sich zu ändern, zum Schluss leuchtet das Gebäude auf, als sei es Ziel eines Anschlages. Technische Mittel der Verfremdung wählt Inga Kerber aus Leipzig. Sie scannt ihre Fotos, kopiert sie, benutzt unterschiedliches Papier und stellt damit Unschärfen her, sodass der Prozess des Reproduzierens Bestandteil des Bildes selbst wird.

Insgesamt verdeutlichen die fünf Positionen, dass der Betrachter dieser fotografischen Arbeiten in den seltensten Fällen sofort begreift, was er sieht, obwohl vordergründig das Abgebildete gut erkennbar ist. Eine spannende Ausstellung, die als Reihe fortgesetzt werden soll.

Bis 29. Januar, Pinakothek der Moderne, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr.