München
Im Rausch der schnellen Schnitte

Der Neuburger Komponist Tobias PM Schneid hat den Film "Berlin Sinfonie der Großstadt" neu vertont

04.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:51 Uhr

Foto: DK

München (DK) Das Maß aller Dinge ist das Zählwerk, das hinter dem Münchener Kammerorchester unerbittlich am unteren Bildrand des Stummfilms "Berlin - Sinfonie der Großstadt" läuft. Das Zahlenwerk im Rhythmus der Zehntelsekunden bestimmt den Fluss der Musik, der Dirigent lenkt den wogenden Sound mit starrem Blick auf die vorbeihuschenden Ziffern.

Probe im Gebäude der Bayerischen Versicherungskammer. Für das Orchester, den Dirigenten Jonathan Stockhammer, die Musiker und den Komponisten Tobias PM Schneid ist das Projekt eine ungewöhnliche Herausforderung. Denn die Musik muss sich dem hektischen Tempo von Walther Ruttmanns Stummfilm unterordnen.

Für Tobias PM Schneid, der seit 1994 in Neuburg lebt, ist das Filmprojekt, das Donnerstag zur Eröffnung des Münchner Dok.fest im Deutschen Theater uraufgeführt wird, eine Premiere. Filme hat der erfolgreiche Komponist noch nie vertont. Überhaupt sieht er sich nicht als Filmkomponist. "Ich bin immer dagegen, wenn Musik irgendwie illustrativ im Hintergrund vor sich hindümpelt", sagt er. Daher erfüllt seine Komposition "A City's Symphony" gleich zwei zentrale Anforderungen: Sie ist präzise, sekundengenau abgestimmt auf das Bildgeschehen. Aber gleichzeitig soll sie auch ganz ohne den Bilderrausch des Stummfilms im Konzertsaal aufgeführt werden können.

Für den 52-Jährigen ist das alles Neuland. Bestimmte Abschnitte hat er mit der Stoppuhr ausgemessen, bevor er anfing zu komponieren. Der Film hat ein enormes Tempo, selten ist ein Schnitt länger als zwölf Sekunden. "Ich musste also größere Sinnabschnitte finden. Das alles ist extrem aufwendig", erzählt der Neuburger.

Für den Film hat Schneid eine eigene Tonsprache entwickelt. "Ich habe lange überlegt, ob ich wirklich die avantgardistische Musik, die ich sonst schreibe auf diese altehrwürdigen Bilder draufsetzen sollte." Schneid entschied sich dann dagegen. "Ich habe mich an der Musik orientiert, die aus der Zeit dieses Stummfilms von Ruttmann kommt - den späten 20er-Jahre." Also standen Strawinsky und Ravel, Sibelius und Vorkriegsschlager Pate bei Schneids Komposition. Tatsächlich huscht diese Musik an den schnell geschnittenen Filmbildern entlang, Motive entfalten sich, ein Pferd stürzt mit bombastischem Krachen, die Musik nimmt den Faden wieder auf, entwickelt plötzlich Pathos als das Militär marschiert, und wenn ein Arbeiterführer agitiert, blöken die Holzbläser. Das erinnert an Sergei Prokofjews "Peter und der Wolf".

Tobias Schneid hat bereits häufiger mit dem vorzüglichen Münchener Kammerorchester zusammengearbeitet. Wie er es überhaupt gewohnt ist, dass hervorragende Dirigenten und Ensembles sich seiner Werke annehmen. So hat etwa auch Andris Nelsons (designierter Gewandhauskapellmeister) oder Denis Russel Davis (Brucknerorchester Linz) seine Werke dirigiert. Schneid ist inzwischen so gut im Geschäft, dass er eine Professur an der Musikhochschule Würzburg bereits nach zweieinhalb Jahren wieder abgab. "Ich bin bis 2017 völlig ausgebucht", erzählt er. Nur in Neuburg und in der Region Ingolstadt ist er eher wenig präsent. Sicher, der gebürtige Unterfranke hat vor Jahren einmal einen Kurs der Sommerakademie geleitet, seine "Symphony of Changes" wurde in der Region vom Münchner Kammerorchester uraufgeführt. Aber ansonsten fanden seine Triumphe als Komponist an anderen Orten statt.

Für Schneid hat sich seine Karriere mit einer gewissen Zwangsläufigkeit entwickelt. Wie kam der Neuburger zur Musik? "Die Musik kam zu mir", sagt er selbstbewusst. "Musik war in meinem Elternhaus immer präsent." Seine Mutter wollte eigentlich Konzertpianistin werden. Der Wunsch hat sich dann auf den Sohn übertragen. Ab dem 15. Lebensjahr übte er fanatisch sechs bis acht Stunden am Tag. Aber er war bereits zu alt, spielte der pianistischen Konkurrenz, die bereits viel früher angefangen hatte, hinterher. So gewann zunehmend Schneids zweite Leidenschaft an Gewicht: das Komponieren. Erste Werke präsentierte er seinem späteren Lehrer Berthold Hummel. Sein wichtigster Förderer und Professor wurde dann allerdings der Riedenburger Komponist Heinz Winbeck. Ihn hält Schneid für "einen der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts".

Das Komponieren verlief für Schneid, der mit einer Ärztin verheiratet ist, immer so mühelos, dass er sich kaum je ernsthafte Gedanken über das Geldverdienen machen musste. Niemals musste er Werbefilme musikalisch untermalen oder einen Abstecher ins Pop-Genre machen. Das wäre für ihn auch nicht infrage gekommen, betont er. Dass er Rock und Jazz dennoch leidenschaftlich liebt, und hunderte CDs mit dieser Musik besitzt, ist da eine ganz andere Frage.