München
Gedankencollagen im U-Bahn-Schacht

Regisseurin Lilja Rupprecht inszeniert Dea Lohers "Unschuld" am Münchner Volkstheater

28.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr

Gestrandete der Gesellschaft sind wir alle: Szenenbild aus Dea Lohers "Unschuld." - Foto: Münchner Volkstheater

München (DK) Zwei überdimensionale Digitaluhren hängen über dem Bahnsteig einer U-Bahn-Station. Der Zeiger einer Uhr rückt im Sekundentakt vor, die zweite Uhr ist außer Betrieb. Höchst symbolisch hat die Bühnenbildnerin Anne Ehrlich die 19 locker gefügten Szenen der 1964 in Traunstein geborenen Autorin Dea Loher hiermit visualisiert: Das Leben eines Teils der Menschen schreitet, vom Sekundenzeiger diktiert, ebenso unaufhörlich wie unerbittlich fort, während für den anderen Teil das persönliche und berufliche Fort- und Weiterkommen stockt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft chancenlos ist.

Eingebettet in aktuelle Zustandsbeschreibungen unserer Gesellschaft, von der Ausgrenzung der Flüchtlinge über das Abschieben älterer Menschen in "Seniorenresidenzen" bis zum Suizid von Einsamen und Verzweifelten, kündet dieses trotz manch ironischer Einsprengsel tief melancholische Stück, das meist kritisch, bisweilen jedoch auch etwas oberflächlich hinter die Fassaden unseres ach so wunderbaren Gemeinwesens blickt. Die Hälfte der Episoden hätte freilich auch genügt, um all die hier angerissenen Probleme, beispielsweise die Einsamkeit des Einzelnen in der Tristesse des Alltags, die Sehnsüchte des Individuums nach Selbstverwirklichung in einer pluralen Gesellschaft oder die Missbilligung des ausschließlich auf das Funktionieren des Menschen in seinem Beruf reduzierten Werktätigen, darzustellen.

Doch die Regisseurin Lilja Rupprecht hat in ihrer Inszenierung Dea Lohers teilweise sperrige Gedankencollagen in eindrucksvolle Bilder umgesetzt: An einem weiß gekachelten Bahnsteig der U-Bahn sitzen die Gestrandeten der Gesellschaft, räsonieren über ihr meist verpfuschtes Leben, hegen Zukunftshoffnungen oder fügen sich resigniert in ihr Schicksal. Dazu tickt der Sekundenzeiger der Bahnsteiguhr ebenso unaufhörlich, wie derjenige der zweiten Uhr stockt, während Videoeinblendungen schäumende Meereswellen, ins Unendliche reichende Bahngleise, wabernde Wolkengebilde und andere Symbolismen mehr das aufgewühlte Innere der Figuren und deren Gefühle visualisieren. Und der Titel des Stückes signalisiert etwas eindimensional, dass sie alle an den aufgezeigten Problemen letztlich unschuldig, sondern Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind.

Eine trotz einiger Texttrivialitäten nachdenklich stimmende Aufführung, bei der aus dem neunköpfigen Ensemble der Gutmenschen und der an der Welt Verzweifelnden, der Individualisten und der Egomanen Pola Jane O'Mara als blinde Traumtänzerin, Jean-Luc Bubert und Leon Pfannemüller als illegale Einwanderer, deren Gedanken über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen, sowie Ursula Maria Burkhart als Seniorin, die sich aus der Gesellschaft nicht ausgrenzen lassen will, herausragen. Und anrührend gibt Magdalena Wiedenhofer eine Stripperin wieder, die wegen der Missachtung ihrer Gefühle durch ihren Ehemann als agiler Leichenbestatter (Jakob Geßner) ins Wasser geht.

Nach zwei Stunden in ihrer Aussagekraft recht unterschiedlicher, aber in dieser Inszenierung flott servierter Szenen voll Fragen über den Sinn des Lebens in der heutigen Welt gab's freundlichen, aber keinen berauschenden Schlussapplaus des Premierenpublikums zum Auftakt der neuen Theatersaison in München.

Weitere Aufführungen am 4., 9., 23. und 31. Oktober; Karten: Telefon (089) 5 23 46 55 und unter www.muenchner-volkstheater.de" class="more" rel="nofollow"%>.