München
Ganz andere Perspektiven

Das Haus der Kunst in München zeigt mit "Figure Ground" eine umfassende Werkschau des Fotografen Thomas Struth

10.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:39 Uhr

Was sehen sie, wohin schauen sie? Thomas Struth richtet in "Audience 11" den Blick auf die Besucher eines Museums, will festhalten, was die Besucher ausmacht, nimmt die Sicht eines hochberühmten Kunstwerks ein, in diesem Fall Michelangelos "David" in der Galleria dell'Accademia in Florenz. - Foto: Thomas Struth

München (DK) Die Straßen von Sankt Petersburg müssen für den Fotografen Thomas Struth ein besonders lohnendes Motiv gewesen sein. Denn anders als in westlichen Städten stehen dort die Häuser in ihrer ganzen architektonischen Gliederung vor Augen - ohne die Ablenkung von konsumorientierter Werbung, ohne Neonschriften oder Plakatwände.

Das Auge genießt die Strukturen der Wandgliederung, die Reihung der Fenster und den Lichteinfall auf die Hauswände. Genau das interessiert Thomas Struth, dem jetzt unter dem Titel "Figure Ground" eine Retrospektive im Haus der Kunst gewidmet ist.

Der Vordergrund der ausgestellten Straßenaufnahmen ist leer. Allenfalls das Pflaster einer Straße ist zu erkennen, aber kein Auto, keine Passanten bevölkern das Zentrum der Aufnahme. Alle Architektur ist darum aufgestellt wie Kulissen im Theater. So konzipierte Struth seine Architekturaufnahmen in Schwarzweiß, mit denen er bekannt wurde.

Gelernt hat der 1954 in Geldern geborene Struth die Nüchternheit solcher Aufnahmen in Düsseldorf. Der Stil von Bernd und Hilla Becher an der dortigen Akademie hat ausgestrahlt, aber es waren auch schlichte Sparsamkeit und Pragmatismus, dass Struth zunächst nur in Schwarz-Weiß fotografierte. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Heutzutage sind Farbaufnahmen im Großformat bezahlbar, und die technische Ausrüstung von Profi-Fotografen erlaubt eine Tiefenschärfe, die jedes Detail abbildet. Ob grüner Dschungel in China oder Kabelsalat im technischen Labor: Struth kann wandgroße Aufnahmen präsentieren, die in jedem Wohnzimmer die Dimensionen einer Fototapete ausfüllen würden. Im Haus der Kunst sind solche Formate genau richtig. Nur so kann er Räume füllen, die eigentlich nicht für eine Fotoausstellung gebaut wurden, sondern für monumentale Kunstwerke.

Spannend sind die Aufnahmen von Struth in Museen oder Kirchen. Denn da konzentriert sich der Fotograf auf die Menschen. Extrem sind die Fotografien von jenen Touristen in Florenz, die Michelangelos "David" betrachten. Ohne das Kunstwerk selbst ins Bild zu rücken, hält Struth die Emotionen der Museumsbesucher fest: mal gelangweilt, mal abgelenkt vom Smartphone, die einen staunend, die anderen im Gespräch, Paare und Passanten vor einem weltbekannten Werk, manche mit einem großen Fragezeichen im Gesicht: Was sehen wir da eigentlich?

Ja, was sehen die Menschen, die einem Kunstwerk gegenüberstehen oder mittendrin sitzen, wie etwa in der Kirche San Zaccaria in Venedig? Struth gelingt es, die Farben der Wandmalerei und der Altarbilder präsenter wirken zu lassen als die bunt gekleideten Touristen in den Kirchenbänken. Was also ist wirklicher: die Heiligengeschichten vergangener Jahrhunderte an der Wand oder die Gegenwart der mehr oder weniger ahnungslosen Besucher, die angesichts der geballten Kunstgeschichte einfach nur ausruhen wollen?

Ein raffiniertes Stilmittel von Struth ist die Diagonale im Bild - selten nähert sich der Fotograf seinem Motiv frontal. Die Diagonale führt den Betrachter ins Bild hinein - sie strukturiert aber auch Gruppen von Menschen. Das gilt insbesondere für seine Serie "Familienportraits", in denen zwischenmenschliche Beziehungen sein Thema ist. Durch den Kunstgriff der Diagonale gelingt es ihm beispielsweise, die Contenance der britischen Queen ins Zentrum zu rücken, obwohl sie mit ihrem Ehemann ein Sofa teilt. Aber auch seine Aufnahmen in Ost-Jerusalem wenden dieses Stilmittel an, wenn sich der Bauplatz für neue Siedlungshäuser wie eine Landzunge in die unberührte Natur schiebt.

Ein weiteres Kapitel blättert der Saal der "Löwenzahnbilder" auf: Landschaftsaufnahmen mit unspektakulären Äckern und Feldern, aufgenommen für Krankenzimmer. Und als Gegenpol zu den Ackerschollen die fragilen Blüten, die der Sommer hervorbringt. Jedes dieser Fotos soll über dem Bett eines Kranken hängen - eine Klinik in Winterthur hat die Serie in Auftrag gegeben. Das Leben ist zerbrechlich und schön - so die Botschaft dieser scheinbar alltäglichen Fotos.

 

Haus der Kunst: bis 17. September, täglich von 10 bis 20 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr.