München
"Die Wörter ruinieren das Denken"

Schauspieler Stefan Hunsteins Performance über 35 Jahre Theaterarbeit

02.07.2015 | Stand 02.12.2020, 21:07 Uhr

Stefan Hunstein - Foto: Falke

München (DK) Clavigo und Lucky, Wurm und Tambourmajor, Shakespeare und O’Neill, Kleist und Tschechow. Wie viele Rollen mag der Schauspieler Stefan Hunstein in 35 Jahren Theaterarbeit schon gespielt haben? Er hat nicht mitgezählt. Aber er weiß: Sie führen ein fragmentarisches Eigenleben in seinem Kopf. Bilden ein Labyrinth aus Buchstaben und Zahlen, beziehen sich reflexartig zueinander und aufeinander, stellen neue Bedeutungen und Zusammenhänge her. Und das kann gefährlich sein. Im Werkraum der Münchner Kammerspiele bestreitet er heute und am 22. Juli zwei Abende unter dem Titel „Die Wörter ruinieren das Denken“.

Herr Hunstein. Ich dachte immer, Wörter strukturieren das Denken. Sie behaupten, „Die Wörter ruinieren das Denken“. Das müssen Sie erklären.

Stefan Hunstein: Den Titel habe ich einem Roman von Thomas Bernhard entnommen. Aus dem „Kalkwerk“, wo ein Mensch eine Studie über das Gehör anstellt, sich den ganzen Tag mit Worten und Texten beschäftigt – und feststellt, dass man an bestimmte Denkmuster überhaupt nicht herankommt. Wie ein Kind lernt, sich in der Welt zu orientieren, lernen wir, uns in unserer Wahrnehmung auf bereits gelernte Texte und Bilder zu beziehen. Ich behaupte, dass diese Texte, Worte, Zitate immer wieder selbst Bilder und Gedanken evozieren, die uns auf Dinge verweisen, die wir schon erlebt haben. Das öffnet uns in einer bestimmten Weise Türen, die die Orientierung erleichtern. Andererseits verschließt es uns aber auch den Zugang zu neuen Türen.

Was ist denn der Kern dieses Abends?

Hunstein: Ich habe ein Theaterstück geschrieben, das über 35 Jahre Theaterarbeit reflektiert. Man wird ja immer wieder gefragt: Wie lernen Sie eigentlich diese Texte? Aber niemand fragt: Wie werden Sie diese Texte wieder los?

Kann man die Texte nicht irgendwie „löschen“, wenn ein Stück abgespielt ist?

Hunstein: Das dachte ich lange. Aber es ist nicht möglich. Das gehört zum Wesen eines Theaterschauspielers: All die Texte, die ich gelernt habe, sind – zumindest fragmentarisch – im Geist und mit dem Körper verbunden, im Bewusstsein enthalten und abrufbar. Der Abend ist eine Performance, eine Improvisation. In Goethes „Faust“ heißt es: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.“ Dem setze ich mich aus. Stellen Sie sich den Arbeitstisch eines bildenden Künstlers vor, mit verschiedenen Skizzen und Handwerkszeug. So schaut man an diesem Abend in den Kopf eines Schauspielers.

Wie viele Rollen haben Sie denn gespielt?

Hunstein: Das habe ich nie durchgerechnet. Aber in den 35 Jahren ist schon einiges zusammengekommen. Drei Rollen pro Jahr, dazu kommen Lesungen – und nicht zu vergessen, die Literatur, die man selbst liest. Ich bin ein großer Thomas-Bernhard-Fan. Da bleiben natürlich auch viele Sätze und Gedanken hängen.

Welche Texte halten sich denn am hartnäckigsten? Ist Shakespeare da schlimmer als Beckett?

Hunstein: Haften bleibt das, was mit meiner Person am meisten zu tun hat. Letztendlich ist das egal, ob von Schiller, Bernhard oder Beckett. Beckett-Texte sind immer zeitlos welthaltig. Es ist ja ein großes Geschenk, dass man als Schauspieler so unglaublich viel Material zur Verfügung hat, die Welt zu verstehen. Ich nutze einfach diesen Zeitpunkt am Ende der Ära Johan Simons und nach 26 Jahren Münchner Theaterarbeit, mich damit künstlerisch auseinanderzusetzen.

Wie lautet der wichtigste Satz?

Hunstein: Die Wörter ruinieren das Denken. Der Abend kreist um die Frage: Kann man all diese Texte überhaupt wieder loswerden? Sind sie Bereicherung oder Fluch? Hat man an einem bestimmten Punkt des Lebens nicht die Sehnsucht nach einem weißen Blatt Papier? Nach einer neuen, unschuldigen Sicht auf die Welt? Als ich vergangenes Jahr an den Nordpol gereist bin, trieb mich auch diese Sehnsucht an, durch eine weiße Leinwand zu fahren, wo sich Wolken und Eis zu einer Fläche verbinden, und es nichts gibt, was den Gedanken festhält.

Sie sind nicht nur Schauspieler, sondern auch Fotokünstler. Brauchen Sie diese andere künstlerische, weniger wortbehaftete Seite als Ausgleich?

Hunstein: Das ergänzt sich mehr und mehr. Meine Bilder haben sehr viele literarische Assoziationen. Und ich möchte mich künftig auch mehr auf die eigene Autorenschaft konzentrieren.

Was gibt es denn für aktuelle Projekte?

Hunstein: Im Moment läuft im Bucerius-Kunst-Forum in Hamburg eine Ausstellung „Über Wasser“, in der alles zusammengekommen ist, was sich in der Malerei und Fotografie mit Wasser beschäftigt hat – von William Turner bis Olafur Eliasson. Mein Bild hängt neben Caspar David Friedrich. Wow. Ganz ehrlich: Mir kamen die Tränen, als ich das im Museum sah. Es ist schon ein großer Unterschied, ob man so ein Bild in einem Zusammenhang sieht, im Dialog mit anderen Werken, oder ob man eine Einzelausstellung macht. Man sieht sein eigenes Bild anders. Und im September plane ich in der Münchner Galerie Binder eine Ausstellung zum Thema „Verdichtungen“ – da geht es noch einmal um Strukturen von Eis. Denn Eis ist ja ein ganz fragiles Medium, das sich ständig verändert. Ein hoch spannendes und auch politisches Thema.

Die Fragen stellte Anja Witzke.

„Die Wörter ruinieren das Denken“, Werkraum der Münchner Kammerspiele, 3. und 22. Juli, jeweils 20 Uhr.