München
Blutiges Mysterium

Die Münchner Villa Stuck zeigt Werke des österreichischen Skandalkünstlers Hermann Nitsch

05.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:14 Uhr

Hermann Nitsch: "Oedipus", 1970/2014. - Foto: VG Bild-Kunst, Bonn

München (DK) "Eine Orgie ist auch ein Mysterium. In der Welt gibt es Opfer, Exzess, Tod und Auferstehung. Und ich möchte alles zeigen, was möglich ist - auch die Wollust und die mystische Erkenntnis." Wenn der österreichische Künstler Hermann Nitsch über sein "Orgien-Mysterien-Theater" spricht, kommt die Sprache schnell auf existenzielle Erfahrungen.

Ob die in einer Art von Ausstellung eingefangen und dargestellt werden können, wie sie jetzt in der Villa Stuck zu sehen ist, bleibt jedoch fraglich.

Der 1938 in Wien geborene Künstler hat um 1970 entscheidende Jahre in München verbracht. Daran erinnern auf Zeitungspapier gedruckte Texte und Fotos mit dem Titel "7. Abreaktionsspiel, 27. Februar 1970". Was damals "Abreaktion" genannt wurde, zeigen die Fotos: geschlachtete und ans Kreuz genagelte Tiere und Menschen, die in deren Gedärmen wühlen und sich von Tierblut überströmen lassen.

Die Ausstellung hat Aktionen wie diese ästhetisch aufbereitet. Multimedial lässt sich das Werk von Nitsch betrachten: Videos zeigen wandgroße Ausschnitte seiner Performances und im kleinen Format seine Opernaufführungen, wie etwa 2011 "Saint FranÃ.ois d'Assise" von Oliver Messiaen an der Bayerischen Staatsoper - per Kopfhörer kann man auch akustische Eindrücke gewinnen. Kostümentwürfe und Papierarbeiten zu seiner Farbenlehre hängen sorgfältig gerahmt an der Wand. Und in abgetrennten Kojen im Obergeschoss liegen auf altarähnlichen Tischen Scheren, Operationsbesteck, Pflaster und alte sakrale Gewänder, deren bräunliche Flecken davon erzählen, dass auch hier vor vielen Jahren einmal Blut vergossen wurde.

Im Gespräch bekennt Nitsch freimütig, dass die katholische Messe "ein Gesamtkunstwerk ist - ich muss daran nicht glauben und die Überbewertung des Transzendenten muss ich nicht anerkennen". Und er führt aus: "Dass man Fleisch Gottes isst und Blut Gottes trinkt - das ist für den Glauben ein reales Geschehen, kein Theater." Für Nitsch sind dies ganz offensichtlich die Koordinaten, an denen sich sein eigenes "Existenz-Fest" ausrichtet. An einer Liturgie, die sich in über zweitausend Jahren entwickelt hat und die den siebten Tag der Schöpfung feiert, will Nitsch anknüpfen in seinem sechstägigen "Orgien-Mysterien-Theater", bei dem Freiwillige bereit sind, körperliche und seelische Grenzüberschreitungen zu wagen. Wie sehr diese Erfahrungen auch eine Nähe suchen zu Sexualität oder "Wollust", wie Nitsch sagte, zeigte ein Beitrag auf der Biennale 2015 in Venedig, wo zwei junge Frauen es geradezu genossen, sich nackt beim blutigen Spiel filmen zu lassen.

Nun ist es so, dass die Aktionen von Nitsch in den 1970er und 1980er Jahren noch heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorriefen. Und in der Tat kann man auf die Filme und Fotos auf unterschiedlichste Arten reagieren: Mit Entsetzen, Abscheu, Ekel ebenso wie mit Faszination, Staunen oder Unverständnis. Gleichgültig ließ das damals wenige. Aber inzwischen hat sich die Welt verändert. Nicht nur das Internet, sondern auch die täglichen Fernsehnachrichten liefern blutige Szenen in Wort und Bild frei Haus. Ein öffentlich geschlachtetes Tier mag heute noch die Tierschützer auf den Plan rufen. Aber provokant ist heutzutage ein Sprengstoffgürtel.

Eine kleine Kreidezeichnung am Anfang der Ausstellung ist für das Verständnis dieser Kunst vielleicht ein Schlüsselwerk. Nitsch skizzierte 1955 die Kreuzigung Christi, mit den Schächern links und rechts, den trauernden Frauen, den berittenen Römern - ziemlich traditionell, wie Tausende Künstler vor ihn. Dieser Mensch, der sich freiwillig ans Kreuz nageln ließ, ist der Stachel im Fleisch von Nitsch. Auf seine ganz persönliche Weise bearbeitet Nitsch das Sterben, das Leiden und den Tod, wieder und wieder. Aber er gelangt nie hin zu dem, was danach kommt, zur Auferstehung, zur Erlösung. Diese Feier des siebten Tages bleibt bei ihm eine Fehlstelle, so weit reicht weder seine Erkenntnis noch sein Mysterium.