München
Beklemmender Blick zurück

Martin Kusej holt Sperrs "Jagdszenen aus Niederbayern" ans Münchner Residenztheater

28.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:34 Uhr

München (DK) Offensichtlicher kann die Krise der Münchner Kammerspiele kaum mehr sein: Vor zwei Jahren inszenierte Martin Kusej, Intendant des Residenztheaters, auf Einladung des damaligen Intendanten Johan Simons des 21-jährigen Martin Sperrs Furore machendes erstes Theaterstück "Jagdszenen aus Niederbayern" vom Jahre 1966 in einer fulminanten Aufführung. Da der neue Kammerspiele-Intendant Matthias Lilienthal seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren großes Regie- und Schauspielertheater durch fade Performances ersetzt, wollte Kusej sein Exempel des kritischen bayerischen Volkstheaters der 1960er-Jahre nicht mehr länger in diesem Umfeld der Lilienthal-Trivialitäten aufgeführt sehen.

Er verzichtete auf weitere Aufführungen im Kammerspiele-Ambiente und holte seine Inszenierung nun in sein Haus auf der anderen Seite der Maximilianstraße. Eine kluge Entscheidung, die noch durch die Tatsache verstärkt wird, dass Gundi Ellert, die hier die verzweifelte Mutter des schwulen Abram faszinierend verkörpert, inzwischen auch ans Residenztheater gewechselt ist. Dazu Katja Bürkle, die den von der Dorf-"Gemeinschaft" so übel malträtierten und letztlich erschossenen Abram höchst eindrucksvoll spielt, ihren Kammerspiele-Vertrag zum Ende dieser Spielzeit ebenso aufgekündigt hat wie Anna Drexler, die die Dorfschlampe Tonka ideal personifiziert.

Nun also dieses an Marieluise Fleißer bestens geschulte Paradestück des kritischen Volkstheaters im Residenztheater: eine ganz gewaltig unter die Haut gehende Psycho- und Gesellschaftsstudie der Nachkriegszeit als furioser Theaterabend, der große Konzentration bei den Zuschauern erfordert. Denn in keinen dampfenden Naturalismus hat Kusej die 16 Szenen getaucht, die er in Rückblende abrollen lässt, sondern als nüchtern-kaltes Stationendrama im gespenstischen Halbdunkel entlarvt er die faschistoide Gesinnung und die in ihren Vorurteilen gefangenen Menschen in dem fiktiven und doch so realen Ort Reinöd, der überall sein kann. Weshalb Kusej das Ensemble nicht im niederbairischen Idiom, sondern in Schriftdeutsch sprechen lässt und deshalb auch "Niederbayern" aus dem Titel gestrichen hat.

Jeder hat hier Dreck am Stecken, aber die angeblich so heile Welt rund um den Kirchturm muss bis hin zum Mord an Abram, dem homosexuellen "Nestbeschmutzer", verteidigt werden. Die Bäuerin Maria (Cristin König) teilt mit ihrem Knecht Volker (Michele Cuciuffo) Tisch und Bett, obwohl ihr im Krieg vermisster Mann noch nicht für tot erklärt wurde. Ihr Sohn, der geistig behinderte Rovo (Jeff Wilbusch), wird als Dorfdepp gehänselt und erhält Zuneigung allein von Abram. Die Hatz auf die beiden Außenseiter kann beginnen. . . Dass Abram hier von der Schauspielerin Bürkle verkörpert wird, zeigt, dass Außenseiter nicht nur auf ein Geschlecht reduziert sind.

Typengerecht brillieren auch die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler, die die bigotte Verlogenheit zwischen der Jagd auf die Unangepassten und dem symbolisch vor Blut triefenden Sauschlachten geradezu erschreckend realistisch darstellen: Anna Drexler ist die Dorfschlampe Tonka, die es mit allen treibt und von Abram ein Kind erwartet, Pauline Fusban gibt die kokettierende Schönheit vom Lande, die ihren sozialen Aufstieg in dieser stumpfen Proll-Umgebung jedoch nicht erreichen kann. Vor allem jedoch füllt Gundi Ellert die Rolle von Abrams Mutter Barbara ungemein beeindruckend aus: eine von all den Schicksalsschlägen verhärmt gewordene Frau, die von den Anfeindungen wegen ihres Sohnes mit den Nerven restlos am Ende ist. Ihren Sohn versucht sie mit inständigem Flehen vor der Wut der brutalen und skrupellosen Dorfbewohner zu retten, und weiß doch, dass er geopfert wird. Eine bewegende Darstellung. Dazu ein Bühnenbild (von Annette Murschetz), das mit kalkweißen Mauern und einer hoch aufragenden Bretterwand das Gefangensein der Figuren in ihren Vorurteilen und die Mentalität in den Betonköpfen dieser Menschen bestens symbolisiert. Ein beklemmender Theaterabend.

Die nächsten Aufführungen sind am 3., 11. und 20. März; Karten gibt es unter Telefon (089) 21 85 19 40.