Macht
Klug, klüger, musikalisch?

30.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:51 Uhr

Macht die Beschäftigung mit Musik intelligent? Seit Langem wird über den sogenannten Mozart-Effekt diskutiert und geforscht. Als ob Musik nicht noch andere Vorzüge hätte. Als ob sie nicht einfach für sich stehen könnte.

Der demokratische Gouverneur, Zell Miller, des US-Bundesstaats Georgia ,lässt 1998 im Parlament parallel zu seiner Rede die "Ode an die Freude" aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie ertönen. In seiner Rede fordert er die Parlamentarier auf, 105 000 Dollar für Klassik-Musikkassetten an Neugeborene in Krankenhäusern einzuplanen. Miller beruft sich dabei auf eine Studie der US-Psychologin Frances H. Rauscher, nach der das Hören klassischer Musik das Denkvermögen fördert. "Spüren Sie schon, dass Sie klüger werden", fragt Miller. "Ich hoffe, so klug, dass Sie dem Antrag stattgeben." 1993 hatte Rauscher von der University of California in Irvine berichtet, dass ihre Studenten räumliche Aufgaben besser lösten, wenn sie vorher zehn Minuten einer Mozart-Klavier-Sonate gelauscht hätten. Dieses Phänomen ist seitdem als Mozart-Effekt bekannt.

Musik bildet das Gedächtnis, verbessert die Sprachfähigkeit und steigert die allgemeine Intelligenz. So lautete das Urteil. Und jede rechtschaffene Mutter setze alles daran, ihrem Ungeborenen oder Neugeborenen ausreichend Mozart-Nahrung zu beschaffen: Eine ganz neue Industrie boomte, mit Klassik-CDs für Säuglinge und entsprechenden Frühförderungskursen für die Zöglinge bildungsbewusster Eltern. Zwei Bundesstaaten in den USA begannen sogar, ihre Schulkinder täglich mit klassischer Musik zu beschallen.

Auch heute und hierzulande, im 21. Jahrhundert mitten in Deutschland, sprießen Musikangebote für die Kleinen wie Pilze aus dem Boden der Kulturlandschaften. Bemerkenswert viele Eltern wünschen sich eine musikalische Ausbildung ihrer Kinder. Am besten gleich pränatal, durch Beschallung im Mutterleib. Babykonzerte, Kinderkonzerte, Familienkonzerte gibt es mittlerweile in jedem Konzerthaus. Und natürlich reagiert man längst auf dem Bildungssektor auf den Trend. So wurde in Nordrhein-Westfalen zum Schuljahr 2007/08 das Bildungsprogramm "Jedem Kind ein Instrument" gestartet. Kinder aller beteiligten Grundschulen lernen eine Vielzahl an Instrumenten kennen und wählen schließlich ihr Instrument für den weiteren Unterricht. Ab dem zweiten Schuljahr bekommen die Kinder das Instrument zum Üben und erhalten einmal pro Woche Instrumentalunterricht. Im dritten und vierten Schuljahr kommt das Zusammenspiel im Schulorchester hinzu. Seit 2015/16 wurde das Programm auf "JeKits - Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen" ausgeweitet.

Ähnlich geht es auch im fernen Venezuela zu, wo mit "El Sistema" versucht wird, eine ganze Generation zu revolutionieren. An Musikschulen können Kinder ab zwei Jahren kostenlos Musikstunden und Musikinstrumente nutzen. Mitwirkung ist Pflicht. Da manchmal die staatlichen Instrumente knapp sind, spielen die jüngsten Kinder in Papierorchestern mit selbst gebauten Instrumenten aus Papier und Pappe. "El Sistema" hat Musiker und Orchester von außergewöhnlicher Qualität hervorgebracht. Edicson Ruiz (Kontrabass) wurde mit 17 Jahren das jüngste je aufgenommene Mitglied der Berliner Philharmoniker.

Fest steht: Heutzutage ist es Konsens, dass Kinder mit Musik in Berührung kommen sollen, und das am besten so früh wie möglich. Doch bei der Frage, ob sie Intelligenz verleiht, ist sich die Forschung nicht einig.

Rauschers Studie konnte von Samuel A. Mehr von der Harvard Graduate School of Education, der als Entzauberer des Mozart-Effekts gilt, widerlegt werden. Die Schwierigkeiten mit dem Mozart-Effekt lägen bereits in der Methodik der damaligen Untersuchung, sagt Mehr. "Das ist so gering, dass man kaum von statistischer Signifikanz sprechen kann." Auch in der veröffentlichten Literatur zu dem Thema habe er keine belastbaren Wiederholungsstudien gefunden. Des Weiteren hält der Mozart-Effekt nur für maximal 30 Minuten an und ist zudem nicht auf eine kognitive Leistung zurückzuführen. Holger Schulze, Hirnforscher an der Universität Erlangen-Nürnberg, betont, der gleiche Effekt käme auch bei anderen Musikrichtungen zustande, sogar bei anderen Aktivitäten, solange sie "in ähnlicher Weise anregend und stimmungsaufhellend sind, sei es ein gutes Buch, eine Tasse Kaffee oder ein Stück Schokolade".

Doch im März 2015 bekommt der Mozart-Effekt Rückendeckung: Irma Järvelä, Dozentin für medizinische Genetik an der Universität in Helsinki, hat die Wirkung von klassischer Musik auf das Gehirn untersucht. Ihre Ergebnisse zeigen erstmals, dass das Hören eines Mozart-Violinkonzerts die Wirkung gewisser Gene erhöht, anderer hingegen senkt. Dadurch könnten kognitive Fähigkeiten, wie Lernen und Erinnern, gesteigert werden. Offen bleibt, ob diese Effekte auch mit anderen Musikgenres erzielt werden können.

Aber Gene allein reichen nicht: Inwiefern Veranlagung das Lernen durch Musik leichter macht und welchen Effekt fleißiges Geige-Üben auf das Denken hat, wird seit Jahren in der Forschung diskutiert. Tatsächlich scheint es auch diesbezüglich entscheidend zu sein, in welchem Alter man mit dem Üben beginnt - und insbesondere, wie viel man übt. Die Psychologin Annemarie Seither-Preisler von der Universität Graz begleitet gemeinsam mit dem Neurologen Peter Schneider, Leiter der Forschungsgruppe Musik und Gehirn an der Neurologischen Klinik Heidelberg, 145 Kinder in einer Längsschnittstudie seit 2009. Ein Teil der Probanden erhält gar keinen Instrumentalunterricht, eine andere Gruppe im Rahmen eines Schulprojekts eine Instrumentalstunde in der Woche, und eine dritte Gruppe spielt privat ein Instrument, was mit intensiverem Üben verbunden ist. Schon nach 13 Monaten zeigten sich deutliche Effekte, allerdings vor allem bei jenen, die viel übten. "Eine Stunde pro Woche scheint zu wenig zu sein", sagt Seither-Preisler. Die musizierenden Kinder zeigten eine höhere auditive und visuelle Aufmerksamkeit, eine bessere Lese-Rechtschreib-Kompetenz, zudem habe sich das Hörzentrum des Gehirns schneller und besser entwickelt, und die Hörareale arbeiteten präziser zusammen. Auch Forscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung berichteten 2009, dass bei Kindern, die früh ein Instrument erlernen, die Schulnoten in Mathematik und Deutsch besser seien als bei Altersgenossen, die Sport treiben. Allerdings schnitten die sportlichen Kinder in Tests zur räumlichen Vorstellung besser ab.

Abgesehen davon können Kinder auch anderweitig vom Musikmachen profitieren. Glenn Schellenberg von der University of Toronto in Mississauga stellte fest, dass der Intelligenzquotient bei Sechsjährigen nach acht Monaten Klavierüben um bis zu drei Punkte ansteigt. Und Laurel Trainor von der McMaster University in Ontario konnte aufzeigen, dass Vier- bis Sechsjährige nach einem Jahr Musikunterricht ein besseres Gedächtnis besaßen als die Vergleichsgruppe. Forscher der Northwestern University in Illinois bewiesen schließlich, dass Musiker besonders gute Fähigkeiten besitzen, Töne, aber auch Sprache zu verarbeiten. Diese Fähigkeit geht bei alten Menschen zuerst verloren.

Doch kann dies wirklich als Beweis gelten? Ist es nicht eher so, dass die Elternhäuser, in denen musiziert wird, eher die gebildeten Haushalte sind? Wird das Kind also neben dem Instrumentalunterricht nicht auch anderweitig gefördert, erhält eine Bildung, Allgemeinwissen, im Zweifelsfall sogar Nachhilfe? Die Forschung kann schließlich nicht herausfinden, was aus den Kindern geworden wäre, wenn sie keinen Instrumentalunterricht erhalten hätten.

"Musikalische Bildung bringt auf jeden Fall etwas", meint Schulze. Motorische Fähigkeiten durch Instrumentenlernen sowie musikalische Fähigkeiten werden verbessert, das Gehör werde geschärft. "Daraus kann auch ein absolutes Gehör entstehen." Jedoch steigere es nicht die Intelligenz. Schulze erklärt: "Mit dem Gehirn ist es ähnlich, wie mit einem Muskel." Wenn man eine bestimmte Leistung trainieren wolle, müsse man auch diesen Bereich fördern. "Beim Kreuzworträtsellösen, wird man auch nicht besser in Mathe."

"Im Gehirn passiert beim Musikhören allerhand", sagt der Professor und Leiter der Neuropsychologie der Universität Zürich und Autor des Buchs "Macht Musik schlau", Lutz Jäncke. Dass das Spielen eines Musikinstruments jedoch intelligent macht, dem widerspricht auch er: "Mit einer Blockflöte allein können Sie schließlich keine Differentialgleichungen lösen." Vielmehr passe sich das Gehirn Herausforderungen an. "Außerdem", meint Schulze, "ist Intelligenz hochgradig vereblich." Betrachte man den IQ-Wert, könnten Erziehung und Bildung lediglich den Ausgangswert um zehn Punkte verändern. Nur die Stellen im Gehirn, die man braucht zum Musikmachen, würden durchs Musikmachen auch verbessert: Trainiert werden die für Feinmotorik und Schallwahrnehmung zuständigen Bereiche.

Gemeinsames Musizieren ist aber dennoch erstrebenswert: Es fördert den Gemeinschaftssinn. In allen Kulturen der Welt lässt sich das gleiche Phänomen beobachten: Menschen sind begeistert von Musik. Die Affinität und Faszination, die von Musik ausgeht, ist unabhängig von Lebensalter und Intelligenz. "Musizieren geht über das reine Hören und musikalische Spielen hinaus", meint Schulze. "Es hat immer auch eine emotionale Komponente." Gemeinsames Musizieren kann bei Menschen mit sozialer Störung, wie beispielsweise Autismus, die sozialen Fähigkeiten verbessern.

Musik und Intelligenz sind womöglich ein Paar, das zusammengehört. Doch Musik sollten wir nicht wegen der Intelligenz, sondern um ihrer selbst willen unseren Kindern nahebringen. Und auch Samuel Mehr, der Entzauberer des Mozart-Effekts, betont: "Jede einzelne Kultur auf der Welt macht Musik, es hat etwas mit dem Menschsein zu tun. Wir unterrichten Shakespeare in der Schule ja auch nicht deshalb, damit unsere Kinder bessere Abschlussprüfungen machen, sondern weil wir glauben, dass Shakespeare wichtig ist."