Leipzig
Erschütternde Familiengeschichte

Leipziger Buchpreis für Belletristik geht an Natascha Wodin für ihren Roman "Sie kam aus Mariupol"

23.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:26 Uhr

Leipzig (dpa) Die Schriftstellerin Natascha Wodin hat den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Die Jury zeichnete gestern Abend in der Kategorie Belletristik ihren Roman "Sie kam aus Mariupol" aus. Weitere Preisträgerinnen sind die Übersetzerin Eva Lüdi Kong für ihre Übertragung des Buchs "Die Reise in den Westen", eines der großen Werke der chinesischen Literatur - die Geschichte vom Affenkönig, der sich aufmacht, die Schriften Buddhas zu holen.

Die Sachbuchautorin Barbara Stollberg-Rilinger wurde für "Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit" (C.H.Beck) geehrt. Das Werk erzähle auf ungewöhnliche Weise das Leben einer der mächtigsten Frauen der Geschichte, hieß es. Die Autorinnen nahmen die mit insgesamt 45 000 Euro dotierte Auszeichnung zu gleichen Teilen entgegen. Der Leipziger Buchpreis zählt zu den wichtigsten Literaturauszeichnungen in Deutschland. Erstmals ging er in allen drei Kategorien an Frauen.

Mit ihrer intimen Familiengeschichte bringt Natascha Wodin Licht in ein Leben voller Schrecken in den Diktaturen Stalins und Hitlers. Sie selbst kam als Kind ehemaliger Zwangsarbeiter zur Welt. Ihre bestürzende Spurensuche liest sich wie ein Krimi. Gut 70 Jahre nach ihrer Geburt begibt sich die Autorin auf eine späte Spurensuche. Wer war ihre Mutter, die als Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg in ein Arbeitslager in Leipzig kam? Ihre Mutter, die in der Ukraine erst die Hungersnot unter Diktator Josef Stalin und dann Hitlers Krieg überlebte und sich 1956 im Alter von 36 Jahren in den Tod stürzte.

In ihrem im Rowohlt-Verlag erschienenen Buch zeichnet Wodin Weltgeschichte an den Schicksalen ihrer Angehörigen nach - ein Roman, der zutiefst erschüttert. "Um mich in den Augen der deutschen Kinder aufzuwerten, hatte ich ihnen erzählt, meine Eltern, für die ich mich so schämte, seien gar nicht meine wirklichen Eltern...", schreibt Wodin. Lange haderte sie, die 1945 in Bayern als Kind heimatloser Ausländer zur Welt kam, mit ihrer Herkunft. Noch für das unveröffentlichte Manuskript erhielt sie bereits den Alfred-Döblin-Preis.

Es geht Wodin nicht vordergründig darum, die von der deutschen Politik erst spät beachtete brutale Ausbeutung der "Ostarbeiter" aufzuarbeiten. Vielmehr sind das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter und eine verborgene Trauer Ausgangspunkte für die Suche nach ihren ukrainisch-russischen Wurzeln. Die beklemmende Reise in die Vergangenheit tritt Wodin von Berlin aus an, wo sie wohnt. Es sind vor allem die vielen unerwarteten Momente und finsteren Entdeckungen, durch die sich das Buch stellenweise wie ein Krimi liest.

Über das Internet und mithilfe eines russischen Stammbaumforschers spürt sie entfernte Verwandte in der Ukraine und in Russland auf. Puzzle um Puzzle entsteht das Bild einer Familie, die mit jedem alten Foto, mit jeder Erinnerung ihre eigene wird. Eine einst wohlhabende Familie, die im Zuge der Revolutionen in Russland vor 100 Jahren und der Machtergreifung der Kommunisten alles verliert. Die Menschen erleiden in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol Terror und Krieg, an jenem Ort am Asowschen Meer, der im Zuge der Kämpfe prorussischer Separatisten in der Ukraine zuletzt in die Schlagzeilen geriet. So verbindet Wodin, Historisches mit der Gegenwart.

Der Erzählfluss bleibt stets unaufgeregt, nüchtern - selbst, wenn der verbreitete Kannibalismus zur Zeit der Hungerkatastrophe in der Ukraine und weitere menschliche Abgründe zur Sprache kommen. Von unschätzbarem Wert sind die Lebenserinnerungen von Lidia Iwaschtschenko, der Schwester ihrer Mutter. Wodins Tante Lidia überlebt ein stalinistisches Arbeitslager, ihre Mutter ein Nazi-Arbeitslager des Flick-Konzerns in Leipzig.

Von hier aus wird die Reise stark autobiografisch. Sie erzählt davon, wie ihre Mutter im Lager schwanger wird, wie die Familie auf ihrem Weg nach Fürth auch nach Kriegsende noch Todesängste aussteht: Als ehemalige Zwangsarbeiter müssen sie die Deportation in ihre Heimat fürchten, wo ihnen unter Stalin Vorwürfe der Kollaboration mit den Nazis Gulag oder der Tod drohen.

Ohne Selbstmitleid erzählt Wodin von sich als Kind, das der Mutter das Leben schwer macht und mit Lügen Unglück sät. Es ist auch die sehr intime Geschichte eines Mädchens und eine große, traurige Familiengeschichte, in der es oft wenig Hoffnung und schon gar keine Gerechtigkeit gibt.