Kein Entrinnen, keine Erlösung

29.05.2008 | Stand 03.12.2020, 5:53 Uhr

Verloren in einer Welt aus Pastell: Marie (Ines Kurenbach) steht Clavigos Karriereplänen im Weg. Er will sich an sein Eheversprechen nicht mehr erinnern. - Fotos: Dashuber/Schölzel

Ingolstadt (DK) Er liebt die Klassiker. Nennt Friedrich Schiller als Lieblingsautor. Und zögerte doch, als ihm das Theater Augsburg die Inszenierung von Goethes "Clavigo" anbot. Jenes Werk über den Karrieristen Clavigo, der seine Braut Marie durch Liebesverrat in den Tod treibt. Goethe war 25 Jahre alt, als er das Stück in nur wenigen Tagen schrieb. Jan Philipp Gloger (kleines Foto) ist 26, und "natürlich hat das alles irgendwie auch mit meiner Welt zu tun". Seine Skepsis hatte einen ganz anderen Grund: "Die Figuren erzählen permanent von ihren Gefühlen. Was sollen wir da noch spielen" Schließlich hat er doch zugesagt, und eine ungewöhnlich spielerische Form gesucht und gefunden, über den Text hinaus von Clavigo und Marie, Carlos und Sophie, Beaumarchais und Buenco, ihren Konflikten, ihrer Sehnsucht, ihren Anstrengungen, ihrem Scheitern zu erzählen. Morgen wird "Clavigo" im Rahmen der Bayerischen Theatertage im Großen Haus des Theaters Ingolstadts gezeigt. Unsere Redakteurin Anja Witzke sprach zuvor mit Regisseur Jan Philipp Gloger.

 

Ihr "Clavigo" spielt auf einer riesigen Rutschbahn. Wie oft sind Sie denn selbst gerutscht

Jan Philipp Gloger: Nie. Ich trau mich das gar nicht. Außerdem war ich zu Beginn der Inszenierung stark verletzt, weil ich bei meiner vorhergehenden Regiearbeit am Schauspiel Essen in den Bühnengraben gefallen war. Ich konnte also quasi nur humpeln. Aber ich finde sowieso: Regisseure gehören nicht auf die Bühne. Nie.

 Auf dieser Rutschbahn  des Lebens schlittern die Figuren in die Geschichte – samt ihren Requisiten. Wie kamen Sie auf diesen ungewöhnlichen Kniff

Gloger: Am Anfang gab es die Idee einer Bühne, auf der die Figuren keinen festen Boden unter den Füßen haben. Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm und ich wollten die Schauspieler auf eine Bühne schicken, auf der sie sich sofort verhalten müssen, auf der sie gleich eine andere Spielweise erfinden müssen, als das vielleicht in einem realistischen Wohnzimmer der Fall wäre. Und diese Rampe lässt einfach mehrere Interpretationsarten zu. Sicherlich kann diese Rampe bedeuten: In eine Situation hineingeworfen werden, aus der es kein Entrinnen gibt. Nur einmal gelingt es Marie, diese Rampe zu erklimmen – in einer Traumsequenz. In dem Bild der Rampe, die im Unendlichen endet, kann man aber auch den Karrierismus oder die hehren Ziele von Carlos und Clavigo einfangen. "Hinauf, hinauf!", sagt Clavigo im Text irgendwann und zeigt die Rampe empor. Beide versuchen immer wieder, dort hochzukommen, aber sie schaffen es nicht, finden keine Erlösung. Eigentlich sind alle Figuren unerlöst.

"Clavigo" ist ein Trauerspiel. Aber in Ihrer Inszenierung muss man ständig lachen über diesen fein inszenierten grotesken Witz. Finden Sie Maries Katastrophe und die Bemühungen des wankelmütigen Karrieristen Clavigo nicht bemitleidenswert

Gloger: Doch: Beider Schicksale sind auf jeden Fall bemitleidenswert. Aber man lacht oft genug gerade in tragischen Momenten. Ich habe versucht, ein Lachen zu finden, das uns einen Zugang zu den Figuren und den Situationen ermöglicht. Lachen bedeutet meist, dass man berührt worden ist. Natürlich hat man Mitleid mit Marie und Clavigo. Trotzdem darf Marie auf der Bühne kein verkörpertes Leiden sein. Dann würde man nicht verstehen, warum Clavigo jemals in diese Frau verliebt war, dann ist sie keine Alternative. Und deswegen wollten wir auch eine lebendige und auch in Phasen humorvolle Marie zeigen.

 Sie haben das tränenreiche Ende gestrichen . . .

Gloger: Ich wusste einfach nicht, warum ich das Ende noch erzählen muss. Abgesehen davon schreibt die Literaturwissenschaft selbst über diesen melodramatischen Schluss sehr ambivalent. Ich wollte eine Geschichte erzählen von einem Clavigo, der sich am Schluss – wie Goethe selbst übrigens auch – in die Literatur flüchtet, der die so genannte poetische Beichte benutzt, um mit diesen unglaublichen Gefühlen (der Schuld an  Maries Tod und der ganzen katastrophalen Welt) überhaupt umgehen zu können.

 

Sie lassen Ihre Schauspieler rosa Pappherzen tragen. Weil diese Figuren eben Ausgeburten eines Dichterkopfes sind

Gloger: Das finde ich spannend. Die Idee kam einfach so. Und wir selbst haben keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Aber ich kann Ihnen mal von den verschiedenen Interpretationen erzählen. Die einen meinten: Die Figuren tragen ihr Herz offen, zeigen ihre Wunde, in die man nur noch den Finger zu legen braucht. Das verbindet sich mit einer unglaublichen radikalen Emotionalität aller Figuren, die mich an diesem Stück vielleicht am allermeisten fasziniert. Andere sahen in den Pappherzen eine Möglichkeit zu demonstrieren, wann eine Figur Herz zeigt und wann nicht. Auf jeden Fall passen diese Pappherzen in die Ästhetik dieser Welt. In das Pastellfarbene, Überschwängliche, Duftige, Stürmerische, Drängerische dieser Welt, das wir auf jeden Fall auch zeigen wollten. Ich hoffe, das kommt rüber.

 

Was kann uns das Stück über die Gegenwart erzählen

Gloger: Das Stück  stellt eine aktuelle Frage: Wie verwirkliche ich mich selbst? Es geht gar nicht mal so sehr um Karriere contra Liebe. Denn Liebe und Karriere gleichzeitig sind möglich und waren immer ein mögliches Modell für Clavigo, wenn man genau liest. Aber was will ich von meinem Leben? Das sind Fragen, die wir uns mit Mit- te 20 extrem stellen. Ein zweiter Aspekt: Clavigo ist wahnsinnig modern in seiner Orientierungslosigkeit, in seinem Zweifel, Stichwort Multioptionsgesellschaft. Und diese vielen Möglichkeiten treffen noch dazu auf einem Menschen – auch das finde ich sehr modern – der eigentlich heimatlos ist, aus einem Migrationskontext kommt. Die Geschichte dieses Clavigo, der zugrunde geht auch an dem Selbstverlust angesichts einer Vielzahl von Optionen und Erwartungen, finde ich zeitlos und vielleicht heute aktueller denn je.

 

Das Theater Augsburg zeigt "Clavigo" morgen um 19.30 Uhr im Gro-ßen Haus. Um 18.30 Uhr findet im Foyer ein Gespräch mit Regisseur Jan Philipp Gloger, Augsburgs Intendantin Juliane Votteler und BR-Moderator Christoph Leibold statt.