Intelligente Deutung eines Klassikers

19.07.2010 | Stand 03.12.2020, 3:51 Uhr

Desolate Seelenzustände: Mireille Delunsch in der Titelpartie von Glucks "Iphigénie en Tauride". - Foto: Missbach

Nürnberg (DK) So ganz ist die Kunde von der Festspielwürdigkeit Christoph Willibald Glucks in der Region Nürnberg noch nicht durchgedrungen: Bei der hochkarätigen Eröffnungsgala blieben einige Plätze leer, ebenso bei der aus Salzburg und Zürich übernommenen Produktion der Gluckschen "Iphigenie auf Tauris". Davon sollten sich Staatstheater-Intendant Peter Theiler und sein Team aber nicht beirren lassen. Denn mit Programmen diesen Kalibers sind die Gluck-Opern-Festspiele auf einem guten Weg.

Was nicht nur die großen Namen meint – beim Abschlusskonzert am 23. Juli ist die Sopranistin Véronique Gens zu Gast –, das Festspielkonzept überzeugt gerade deshalb, weil mit Projekten wie der musikalischen Führung durch die Nürnberger Unterwelt ("Orpheus@Felsen.Gänge", noch bis morgen) oder der Tanzoper mit Jugendlichen "Schau nicht zurück, Orfeo!" und der Übernahme der Opernausgrabung "Andromaque" aus Schwetzingen (André-Ernest-Modeste Grétry, heute) der Blick von Gluck ausgehend geweitet wird: auf den musikhistorischen Kontext und in die Gegenwart hinein.
 

"Gluck, Paris und die Folgen" lautet das diesjährige Festspiel-Motto und im Eröffnungskonzert am Freitag wurde es auf elektrisierende Weise lebendig. Glucks geniales Don-Juan-Ballett geriet den "Musiciens du Louvre" zu einem Klangfarbentaumel, an dem Hector Berlioz sich nicht hätte satt hören können. Dessen glühende Verehrung für Gluck ist bekannt, selten aber ist die direkte Beeinflussung so mit Händen zu greifen wie in dieser Programmfolge.

Die große Anne-Sofie von Otter – bisweilen etwas stumpf im Timbre, aber mit ungebrochener Ausdrucksintensität – zelebriert dessen stilistisch gleichermaßen retrospektive wie visionär vorausblickende Rom-Preis-Kantate "Cléopâtre" als bewegende Innenschau. Das Orchester zeichnet jede Gefühlsregung seismografisch nach, die Erhabenheit der imaginären Szenerie ist von feinen Rissen durchzogen, die am Ende nicht gekittet werden, sondern offen daliegen.

Marc Minkowski ist auch für den überschwänglichen Furor von Berlioz’ Harold-Symphonie der ideale Dirigent, nur für den Pilgermarsch fehlt ihm ein wenig die Gelassenheit und auch die Balance mit dem fantastischen Antoine Tamestit an der Solobratsche ist hier nicht ideal. Die finale Räuberorgie aber, nach einer ersten Bach-Zugabe Tamestits vom "Römischen Karneval" in der Brillanz der Klangfarbendramaturgie noch übertroffen, fegt diese Einwände exstatisch taumelnd hinweg.

Von der Schärfe der Artikulation und Detailversessenheit der französischen Originalklangspezialisten hätte man sich einiges auch in der "Iphigenie" gewünscht. Philipp Pointner kam mit dem Philharmonischen Orchester über eine routinierte Begleitung nicht hinaus, vor allem die Nachlässigkeit in den von Gluck so meisterhaft dramatisierten Rezitativen lähmte den Erzählfluss.

Sängerisch war nur Tilman Lichdis Pylades auf der Höhe der Partitur; die im Vorfeld hoch gehandelte Mireille Delunsch, in Stimmfarbe und Gestaltungskraft sicher eine ideale Protagonistin, intonierte fast durchgehend eine Spur zu tief, Dimitris Tiliakos verwechselte als Orest Ausdruck mit Lautstärke. Doch selbst wenn hier nun einiges eher kurzfristig einstudiert denn darstellerisch durchlebt wirkt, ist diese Inszenierung Claus Guths aus dem Jahr 2000 ein Muster an intelligenter, bildgenauer und zeitloser Deutung eines Klassikers. Wie die Doppel- und Wiedergänger mit ihren riesigen Puppenköpfen albtraumhaft durch die desolaten Seelenzustände der Personen wandeln, wie die Chöre in ihren choreografierten Gesten diese mehrfach spiegeln und wie am Ende der Ausblick aufs offene Meer als Kulisse enttarnt wird: Das ist modernes Musiktheater wie es überzeugender und packender kaum sein könnte.