Ingolstadt
Musikalischer Humanismus

Umjubeltes Brahms-Requiem: Dirigent Kent Nagano verabschiedet sich in einem bewegenden Konzert vom Vorsprung-Festival

25.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

Foto: DK

Ingolstadt (DK) Es gibt bei Konzerten Ereignisse, bei denen sich die gesamte Bedeutung eines Abends fast symbolisch, wie unter einem Vergrößerungsglas, konzentriert. Ein solcher Moment war bei der Aufführung des "Deutschen Requiems" von Johannes Brahms unter der Leitung von Kent Nagano im Ingolstädter Festsaal ausgerechnet ein Augenblick ohne Musik, der fast magischen Stille.

Nagano hatte vor dem Konzert das Publikum gebeten, ganz am Ende des Requiems eine Minute in völligem Schweigen innezuhalten und dabei der Toten des Münchner Amoklaufs zu gedenken. Publikum und Orchester hielten sich daran. Abgesehen von einem schwachen Huster herrschte atemlose Ruhe, Erstarrung. Selten, dass die Aufführung eines Requiems so passend war, dass sie so sehr einen Nerv traf. "Wir hätten uns niemals vorher gedacht, dass wir das Requiem unter diesen Umständen aufführen würden", hatte Nagano in seiner kleinen Ansprache vorher dem Publikum erzählt. Das Brahms-Werk hätte von Anfang an den Abschluss des auf drei Jahre angelegten Vorsprung-Festivals bilden sollen, genauso wie Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie" den Beginn der Konzertreihe.

Kent Nagano ließ noch einmal die drei Festivaljahre Revue passieren, hielt dem Publikum im ausverkauften Festsaal vor Augen, wovon all diese Musik handelte: von Geburt, Tod, Auferstehung, Liebe, Hass, von Natur und Technik, den Jahreszeiten und Temperamenten. Vor allem aber vom Wichtigsten überhaupt: vom Prinzip der Humanität. Und man spürte in diesem Moment der Stille plötzlich, wie wichtig dieser große Dirigent für die Sommerkonzerte und überhaupt für die Region Ingolstadt war. Dass das von Audi veranstaltete Musikfestival niemals vorher ein so einleuchtendes, klar formuliertes Konzept hatte.

Man erinnerte sich daran, wie der Audi-Manager Karl-Heinz Rumpf vor 26 Jahren dieses wunderbare und wichtige Festival gründete und dabei in den ersten Jahren fast alle Arten von Musik präsentierte, Hauptsache, sie war großartig. Und wie in den vergangenen Jahren diese Festspiele mit dem Vorsprung-Festival plötzlich eine Aussage bekommen hatten. Wie sich die einzelnen Konzerte zu einem höheren Sinnzusammenhang fügten. Und dass Nagano großartige, mutige, zum Denken anregende Abende gestaltete: In einer Audi-Werkhalle Ducati-Motorräder als Musikinstrumente einsetzte, Stockhausens "Helikopter-Quartett" mit echten Hubschraubern aufführte, Vivaldis populäre "Vier Jahreszeiten" mit Uraufführungen kontrapunktierte, wie es ihm überhaupt immer wieder gelang, die Aktualität historischer, klassischer Meisterwerke deutlich zu machen. In diesem Moment des Abschieds von Nagano ist kaum vorstellbar, dass die Sommerkonzerte im kommenden Jahr auf die leitende Hand dieses großen Musikers wird verzichten müssen. Auf so großartige Abende auch wie dieses Abschiedskonzert mit dem Requiem von Brahms in einer grandiosen Besetzung.

Nagano hatte noch einmal eines der besten Orchester der Welt nach Ingolstadt geholt: das London Symphony Orchestra. Es sollte die Audi-Jugendchorakademie begleiten, das Ensemble, das Nagano so sehr am Herzen lag und liegt. Vielleicht machten diese verschiedenen Bedeutungsebenen, die wie ein Schatten über dem Konzert lagen, diesen Abend so eindrucksvoll: die Anschlagsopfer in München, der Abschied Naganos, der Ausklang des Vorsprung-Festivals, das Prinzip der Humanität, das dem Agnostiker Brahms in diesem ungewöhnlichen Requiem viel wichtiger war als alle konfessionell geprägte Religiosität.

Nagano hatte auch an diesem Abend nicht darauf verzichtet, ein historisches Werk mit einem zeitgenössischen zu verschmelzen. Wolfgang Rihm hatte er bereits 2002 beauftragt, zum Brahms-Requiem vier kurze Orchesterstücke zu komponieren. In "Das Lesen der Schrift" wirken die Sätze wie Echos auf einzelne Motive des Brahms-Requiems. Das Orchester modelliert den Brahms'schen Trauer- und Trostgedanken um, kommentiert die historische Musik, entziffert den Text der Komposition noch einmal neu. Diese Musik ist am Rande der Stille angesiedelt. Schattenhafte musikalische Formen bilden sich und verschwinden schnell wieder. Das zweite Stück ist kaum anderes als ein mäandernder, sich immer wieder verändernder Akkord. Im dritten gibt es einen Moment lang eine wiegende Melodie der Bratsche. Der Schlusssatz ist polyfon wie eine Brahms-Fuge. Das wirkt wie Musik vor der Entstehung von Musik. Wie Trauer am Rande des Todes, des Jenseits, des Nicht-mehr-Formbaren. Eine ergreifende Ergänzung zur Musik von Brahms.

Und das Requiem selbst? Nagano dirigierte noch zurückhaltender, noch zerbrechlicher, als man das Werk sonst hört. Um die riesige Musiker-Menge dann doch in Ekstase zu führen, wenn im sechsten Abschnitt von Posaunen die Rede war, von der Auferstehung. Der Audi-Chor war in diesen Momenten grandios, nicht nur, weil er so präzise singt, weil er über eine so unglaubliche Dynamik verfügt. Sondern weil sein heller Klang von solch kristalliner, ebenmäßiger Klarheit durchdrungen ist, wie man es bei Profichören fast nie erlebt.

Während die etwas enge Stimme des Baritons Markus Werba vielleicht etwas enttäuschte an diesem Abend, kehrte die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller den Zusammenhang von Trost und Trauer im Zentrum des Werkes anrührend, kraftvoll und mit großen Melodiebögen hervor.

Ein grandioser, bewegender Abend. Der Beifall wollte kaum ein Ende nehmen.