Ingolstadt
David Garrett: Locker vom Hocker

15.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:54 Uhr

Lässiges Outfit, spannungsgeladenes Violinspiel: David Garrett bei den Sommerkonzerten - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Sieht so ein Klassik-Star aus? Mit T-Shirt, eng anliegendem Jackett, Jeans und schweren Stiefeln ohne Schnürsenkel kam David Garrett auf die Bühne des Ingolstädter Theaterfestsaals. Und fläzte sich auf eine Art Barstuhl. Kann das gut gehen? Brahms locker vom Hocker

Es ging gut. Sogar sehr gut. Denn Garretts Brahms-Violinkonzert war ein wirkliches Ereignis. Eigentlich rümpfen eingefleischte Klassikpuristen seit Langem die Nase, wenn der Popgeiger zum Bogen greift. Er gilt als Überläufer, der sein großes Talent an den Massengeschmack verschwendet. Ein Kritiker bezeichnete Garretts Ausflüge zur Popmusik sogar abfällig als „Softpornopopklassikjunkfood“. Dem großen Sänger Thomas Quasthoff „zieht es die Schuhe aus“, wenn er den Cross-over-Star hört. Er kann es nicht ertragen. Garrett spaltet wie kein anderer Musiker die Musikwelt.

In Ingolstadt hatte sich der Aachener eines der sprödesten, sperrigsten und längsten Violinkonzerte der Musikgeschichte ausgesucht. Ein undankbarer Brocken von einem Musikstück, um das etwa der berühmte Pablo Sarasate vor 100 Jahren einen großen Bogen machte. Denn das Brahms-Konzert ist teuflisch schwer, bietet aber kaum Raum für Showeffekte und Bravour.

Für David Garrett jedoch war der Vortrag des Brahms-Konzerts offenbar vor allem ein Bekenntnis. Nach dem Konzert erzählt er, dass er generell gerne Musik mache – „jede Musik“. Aber all der Pop, all die Cross-over-Konzerte seien natürlich in erster Linie „Mittel zum Zweck“, um auch jungen Leuten klassische Musik zugänglich zu machen.

Genau so spielte Garrett den schwerblütigen Brahms: Wie ein verliebter Jüngling, der mit Geigenbogen und Violinsaiten die Musik umschmeicheln möchte. Der versonnen lächelnd jeden seiner Töne mit Leidenschaft auflädt. Der uns immerzu mit seiner Geige zeigen möchte, was für unglaubliche Musik Brahms hier komponiert hat. Dabei vermied Garrett jede Oberflächlichkeit – etwa den Versuch, über das gesamte Stück einen Zuckerguss süßlichen Vibratos zu kleistern wie manche seiner Kollegen. Vielmehr war sein Geigenklang meist leicht angeraut. Nicht der satte Schönklang interessierte ihn, sondern ein Höchstmaß an Differenzierungen, an Farben. Im ersten Satz fetzte er manchmal über die Saite, dass man zurückschreckte. Dann erzeugte er leise glühende Klänge, sprechende Phrasierungen. Und nach der gewaltigen, ungeheuer schweren Kadenz spielte er die hohen Kantilenen mit eisiger Zurückhaltung, bis er ganz plötzlich beim Höhepunkt die Geige in höchster Wärme erstrahlen ließ. Das war wirklich große Violinkunst, wie man sie sehr selten zu hören bekommt.
 

Im langsamen Satz dann erzeugte der 32-Jährige wunderbar schmelzende Töne, ließ die Geige fast naiv singen. Um im ungarisch-temperamentsgeladenen Schlusssatz endlich vom Hocker zu steigen, rasende Virtuosität zu demonstrieren und vor Überschwang immer wieder mit dem Fuß aufzustampfen. Während Garrett zuvor seine Geige geradezu kammermusikalisch bescheiden in den symphonischen Klang des von John Axelrod einfühlsam geleiteten Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi integrierte, trat er nun hervor und machte den musikalischen Entertainer: Auch Brahms kann Pop sein.

Die Begeisterung des Publikums kannte kaum Grenzen, man trampelte, pfiff und zückte die Handykamera, um den geigenden Beau abzulichten. Ein Aufstand der Enthusiasten. Garrett gab schnell noch zwei Zugaben: Niccolò Paganinis pfiffige und unglaublich knifflige „Carnevale di Venezia“, dessen Melodie bekannt ist als das Lied „Mein Hut, der hat drei Ecken“. Dabei ließ der Geiger die Mailänder Orchestermusiker die Begleitung dezent zupfen. Und er gab von Fritz Kreisler das pseudobarocke Stück „Variationen auf ein Thema von Corelli im Stile von Giuseppe Tartini“.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits fast vergessen, was das wunderbare Mailänder Orchester im ersten Teil des Abends präsentiert hatte: Besonders die „Aida“-Ouvertüre mit ihrem leise sehnenden und verhalten schmachtenden Beginn, ihren brutalen Ausbrüchen und zarten Klarinetten-Soli gelang grandios, sinnlich, italienisch-pathetisch. Etwas zu glatt poliert wirkte die dann folgende 5. Sinfonie von Beethoven, vom ständig animierend lächelnden John Axelrod sehr schnell, sehr amerikanisch brillant dirigiert. Eine übersichtliche Darstellung, die durch ihre rhythmische Prägnanz einen eigenartigen Sog entwickelte und ungewohnt leicht tänzelnd daherkam. Eigenartig, dass düsteres c-Moll im ersten Satz so heiter klingen kann.