Ingolstadt
Im Namen der Zuschauer

Großer Applaus: Annalena Maas inszeniert Ferdinand von Schirachs Stück "Terror" am Ingolstädter Landgericht

21.05.2017 | Stand 02.12.2020, 18:05 Uhr

Bei der Premiere endete die Verhandlung mit einem Schuldspruch: Victoria Voss verkündet als Vorsitzende Richterin das Urteil, das die Zuschauer gefällt haben. Ferdinand von Schirach hat zwei Variationen des Schlusses geschrieben. In jeder Vorstellung wird neu abgestimmt. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) "Ich verkünde folgendes Urteil: Der Angeklagte Lars Koch wird wegen Mordes in 164 Fällen verurteilt." Am Ende steht also ein Schuldspruch: 51 "Schöffen" stimmten für eine Verurteilung, 27 für einen Freispruch. Ein ungewöhnliches Ergebnis, das da am Freitagabend im Sitzungssaal 11 des Landgerichts Ingolstadt protokolliert wurde. Endeten bisher doch mehr als 92 Prozent aller Verhandlungen seit der Uraufführung im Oktober 2015 mit einem Freispruch. "Terror" heißt das Justizdrama von Ferdinand von Schirach, das derzeit landauf landab gespielt wird und es sogar als interaktives Experiment zur Primetime und mit Starbesetzung ins Fernsehen (fast sieben Millionen Zuschauer) geschafft hat. Und es ist in der Tat ein spannendes Gedankenspiel.

Darum geht es: Major Lars Koch, Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr, Typ Eurofighter, schoss ein mit 164 Passagieren besetztes Zivilflugzeug der Lufthansa ab, das von einem mutmaßlich islamistischen Terroristen entführt worden war. Der Terrorist hatte gedroht, das Flugzeug in die mit 75 000 Besuchern ausverkaufte Allianz-Arena zu lenken. Die Verteidigungsministerin gab, einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgend, das Flugzeug nicht zum Abschuss frei. Koch setzte sich eigenmächtig über dieses geltende Recht hinweg - und brachte die Passagiermaschine zum Absturz. Keiner der 164 Passagiere überlebte. Dafür muss er sich nun verantworten.

Ferdinand von Schirach belässt es nicht bei der Gerichtsverhandlung, in der Staatsanwalt und Verteidigung moralische Fragen erörtern, um die Würde des Menschen und rechtsstaatliche Prinzipien diskutieren und darüber, ob Leben gegen Leben abgewogen werden darf. Er vermengt juristische und philosophische Fragen - und macht daraus ein Gesellschaftsspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Lässt das Publikum entscheiden, indem er sie in seiner Gerichtsshow zu Schöffen macht. Sie allein sind es, die das Urteil über den Angeklagten fällen. Denn nachdem das Beweisverfahren abgeschlossen ist, die Plädoyers gehalten wurden und man dem Angeklagten das letzte Wort gestattete, sind sie es, die über Schuld und Unschuld abstimmen. Geurteilt wird im Namen der Zuschauer.

Ein spannendes Stück. Das Stadttheater Ingolstadt hat sich entschieden, es direkt am Landgericht spielen zu lassen. Und Regisseurin Annalena Maas nimmt es in Sachen der Authentizität sehr genau. Von der Sicherheitsschleuse, durch die jeder Besucher treten muss (die Polizisten sind allerdings Statisten), bis zum Aushang vor dem Gerichtssaal. Und irgendwie zeigt auch der Saal Wirkung. Denn auch ohne Belehrung erhebt sich das Publikum sofort von den Sitzen, wenn Victoria Voss als Vorsitzende Richterin den Saal betritt. Auch sonst schätzt Maas Präzision: der Auftritt von Staatsanwalt und Verteidiger, das Anziehen der Roben (Kostüme: Elena Friesen), das Blättern in den Akten, die Abläufe im Gerichtssaal - all das ist sehr genau der Realität abgeschaut. Und weil Maas den Text klug gestrafft hat und ihre Schauspieler mit der gleichen Klugheit führt, fühlt man sich oft genug in eine reale und höchst brisante Gerichtsverhandlung versetzt.

Überhaupt: die Schauspieler! Immer wieder blitzt bei ihnen das Menschliche hinter ihren Rollen auf. Victoria Voss gibt eine sehr zugewandte, geduldige, souveräne Vorsitzende Richterin. Eine, die immer wieder nachfragt, verstehen will und Verständnis zeigt. Eine perfekte Besetzung. Enrico Spohn als Verteidiger und Péter Polgár als Staatsanwalt: raffinierte Rivalen im Kampf um die bessere Performance, die dramatisch-rhetorischen Volten, die geschickteren juristischen Kapriolen. Dazu Marc Schöttner als Angeklagter Lars Koch. Einer, der an die Rechtmäßigkeit seiner Tat glaubt, aber gleichwohl unter ihr leidet. Sehr ernst, sehr diszipliniert, auch in seinen Brüchen höchst spannend. Mira Fajfer als Nebenklägerin, deren Mann in der abgeschossenen Lufthansa-Maschine saß: Überzeugend agiert sie in ihrer Überforderung und ihrer Ohnmacht - und gibt dem Stück zusätzlich emotionale Tiefe. Und Michael Amelung als Zeuge Lauterbach, Vorgesetzter des Angeklagten bei der Bundeswehr: Befehlsempfänger und Biederbürger par excellence.

Regisseurin Maas spielt mit Sympathien und Antipathien, arbeitet hier und da mit mehr Druck, mit Irritationen und vertauscht schon mal die Redebeiträge von Verteidigung und Staatsanwaltschaft im Sinne einer klareren Strategie. Denn beide Seiten machen vertrackte Rechnungen auf: Opferzahlen, Beispielfälle, der Zeitfaktor, Alternativen (Evakuierung des Stadions). Immer wieder gibt es auch Momente der Verunsicherung - gerade in der Figur des Angeklagten. Und das tut dem Stück gut. Held oder Verbrecher? Staatsräson oder gesunder Menschenverstand? Schuld- oder Freispruch?

Ferdinand von Schirach hat alternative Schlüsse geschrieben. Denn an jedem Vorstellungsabend wird neu entschieden. Und je nachdem, was der Hammelsprung ergibt, verliest die Vorsitzende Richterin das Urteil. Aber wichtig ist gar nicht so sehr das Abstimmungsergebnis. Wichtig ist der Diskurs. Wie wollen wir leben in Zeiten des Terrors? Und wie verändert er unsere Moral, unser Denken, unser Handeln? Ein Stück, das vor allem Fragen aufwirft. So muss Theater sein. Großer Applaus!

 

Weitere Vorstellungen bis 9. Juni am Landgericht. Karten gibt es unter Telefon (0841) 30 54 72 00.