Ingolstadt
Auf der Suche nach Heimat

David Williams und Julia Mayr verwandeln Shaun Tans Comic-Roman in spektakuläres Tanztheater

14.04.2013 | Stand 03.12.2020, 0:16 Uhr

Auch in der Fremde findet man Freunde: Yahsmine Maçaira und Michael Amelung in David Williams’ und Julia Mayrs Bühnenadaption von Shaun Tans Graphic Novel „Ein neues Land“ in der Werkstattbühne. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Der Kistendeckel schwingt auf und gibt den Blick frei auf einen Mann im dunklen Anzug, eingekeilt zwischen den Wänden einer winzigen Kabine im Bauch eines riesigen Schiffes. Einen Koffer drückt er an seine Brust. Nicht nur der Enge wegen. Dieser Koffer ist alles, was er hat. Dieser Koffer verwahrt das ganze Hab und Gut, mit dem er sich aufgemacht hat in das Land am anderen Ende des Ozeans. Wo er sein Glück finden will. Oder vielleicht auch nur eine Arbeit, ein sicheres Zuhause für seine kleine Familie. Die musste er zurücklassen. Das macht sein Herz genauso schwer wie die Furcht vor dem Fremden. Und doch zeigt Michael Amelung, der diesen namenlosen Mann spielt, neben Trauer auch Neugier, Hoffnung, Zuversicht, in seinem Gesicht spiegelt sich auch das kleine Glück über einen wärmenden Sonnenstrahl, den Zauber eines vorbeiziehenden Vogelschwarms.

David Williams und Julia Mayr, die Shaun Tans Graphic Novel „Ein neues Land“ für das Junge Theater Ingolstadt in Tanztheater verwandelt haben, lassen die Geschichte mit dem zweiten Kapitel beginnen: Überfahrt, Ankunft, Registrierung. Erst, wenn diese große Aufgabe bewältigt ist, die seltsamen Einreiseformalitäten erledigt, eine neue Bleibe und ein Bett gefunden sind, erst, wenn der Mann sich niederlegt, träumt er von seinem alten Leben. Von einem endlosen Drachenschwanz, der das Leben seiner Familie bedrohlich überschattete. Unklar bleibt, ob dieser düstere Schemen Armut symbolisiert oder eine dräuende politische Gefahr – er verbreitet solch existenziellen Schrecken, dass Flucht der einzige Ausweg scheint.

Um es gleich vorwegzunehmen: Mit dieser ungewöhnlichen Bühnenadaption eines sowieso schon ungewöhnlichen Buches ist dem Jungen Theater Ingolstadt der ganz große Coup gelungen. Die Inszenierung von David Williams und Julia Mayr in der Werkstatt (ab zwölf Jahren) ist hoch poetisch und traumverloren, so anrührend, vielschichtig und beklemmend wie die gezeichnete Vorlage, sprüht dabei vor Fantasie, Witz und Lebendigkeit – und erzählt eine Geschichte, wie sie gestern, heute, morgen überall zu finden ist. Eine Geschichte von Abschied und Neubeginn, von Einsamkeit und Mut, von Fremdheit und Freundschaft.

Shaun Tan ist ein Meister des allegorischen Erzählens. Und Williams und Mayr passen viele dieser Bilder kongenial in ihre Inszenierung ein. Zusammen mit Ausstatterin Dietlind Konold haben sie wirklich Wundersames geschaffen – von der schlichten Bühnenästhetik, die einen musealen Raum mit kostbaren Exponaten zitiert, über die Kisteninstallation, die treffliches Spielmaterial abgibt, bis zu den kleinen, bizarren Wesen, die als eine Art Haustier oder Wächter die Menschen im „neuen Land“ begleiten. Darüber hinaus haben die Regisseure aber eine ganz eigene Bühnensprache für Tans Geschichte erfunden, die zwar mit Verweisen aufs Original arbeitet, aber ganz neue Spielformen entwickelt. Bestes Beispiel: die Bekanntschaft des Protagonisten mit seinem Hausgenossen, einem drolligen Wesen, das zunächst als Pappmaschee-Kreatur auftritt, bis Pé- ter Valcz in seine Rolle schlüpft und eine reizend getanzte, verrückte Kennenlernszene im Tangorhythmus beginnt.

So komisch die Szenen um die Einreiseformalitäten oder am neuen Arbeitsplatz gestaltet sind, so eindringlich gelingen die getanzten traumatischen Erinnerungen der anderen Einwanderer.

David Williams und Julia Mayr haben ein spektakuläres Gesamtkunstwerk geschaffen, mit einem klugen Konzept, spannenden Schauspiel-, Tanz-, Tempo- und Rhythmuswechseln, einer ausdrucksstarken Lichtregie (Siegfried Probst) und einer betörenden Musik, die mal spieluhrenhaft leicht, mal schwermütig, mal bedrückend klingt, Musette und Tango zitiert oder atmosphärisch schwirrt. Vervollkommnet wird das Ganze von Stefano Di Buduos zauberhaften Videoprojektionen, die die Zeichnungen Shaun Tans im Bühnenraum erlebbar machen – den Vogelschwarm über dem Ozean, die Wabenarchitektur der Megacity, die mysteriösen Codes, das Vergehen der Jahreszeit.

Dazu kommt ein behutsam agierendes, mit Humor und originellen Ideen reich ausgestattetes Schauspieler- und Tänzerquartett: Michael Amelung, Péter Valcz, Yahsmine Maçaira und Maria Nieves Tietze. Sie überzeugen durch geschmeidige Körperlichkeit im fliegenden Rollenwechsel, mit charmanten Duetten und rätselhaftem Wimmeln, durch rasenden Stillstand und flirrende Energie. „Ein neues Land“ ist Tanztheater zum Staunen, trifft direkt ins Herz und macht einfach glücklich. Und deshalb will nach 80 Minuten der Applaus auch gar nicht enden.

 

Die nächste Vorstellung im freien Verkauf ist am Sonntag, 5. Mai, um 18 Uhr. Karten gibt es unter Telefon (08 41) 30 54 72 00.