Ingolstadt
Zehn moralische Versuchsanordnungen

Alexander Nerlich bringt Krzysztof Kieslowskis Filmexperiment "Dekalog" auf die Bühne des Stadttheaters Ingolstadt

04.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:21 Uhr

Der Filmzyklus "Dekalog" von Krzysztof Kieslowski (rechts) setzt sich mit den Zehn Geboten auseinander. Alexander Nerlich hat eine eigene Theaterfassung für Ingolstadt entwickelt. - Fotos: Imago/Goertz

Ingolstadt (DK) "Dekalog" hat Krzysztof Kieslowski (1941-1996) seinen Filmzyklus genannt, der sich mit den Zehn Geboten auseinandersetzt. Im Zentrum steht eine Mietskaserne in Warschau Mitte der 80er-Jahre. Chaos und Unordnung beherrschen Polen in dieser Zeit. Die Menschen, die hier leben, glauben nicht an die Zehn Gebote und halten sie auch nicht für verbindliche Normen. In zehn Kapiteln untersucht Kieslowski Fragen nach individueller Verantwortung und Freiheit. Denn die großen moralischen Fragen werden nicht in den Machtzentren der Politiker und Wirtschaftsbossen entschieden, sondern da, wo die kleinen Leute sich in engen Wohnwaben zusammendrängen. Alexander Nerlich bringt Kieslowskis monumentales Filmexperiment (jeder der Filme dauert etwa eine Stunde) nun auf die Bühne des Stadttheaters Ingolstadt. Am Donnerstag ist Premiere im Kleinen Haus.

Nerlich wurde 1979 in Hamburg geboren. Er absolvierte sein Regiestudium an der Bayerischen Theaterakademie und arbeitete als Hausregisseur am Münchner Residenztheater. 2011 gründet er die Theatergruppe Collisions. Und hat in Ingolstadt bereits mit seinen spektakulären Inszenierungen von Thomas Arzts "Grillenparz" und "Jenny Jannowitz. Oder der Engel des Todes" von Michel Decar Aufsehen erregt.

Was mag der Regisseur an Krzysztof Kieslowski? "Seinen Sinn für Ambivalenzen und Gegenüberstellungen. Er kann so präzise erzählen, so geballt, sparsam und dicht - und sucht dabei immer die Verunsicherung, die Poesie, das Staunen und die Ungewissheit. Man muss bei ihm meistens mit Geheimnissen und Widersprüchen leben", antwortet Nerlich. "Er kann fantastisch von alltäglichen Figuren in krassen Situationen erzählen; von Figuren, die unter Druck Dinge tun, die wir Zuschauenden nur schwer bewerten können. Sie erschrecken uns zwar oder stoßen uns erst einmal ab, und doch erscheinen sie irgendwie völlig normal und vertraut. Man kann sie verstehen oder fühlt mit ihnen. Das kriegt Kieslowski wirklich super hin. Die Menschen im Alltäglichen abzuholen und plötzlich durch heftige Zerreißproben gehen zu lassen."

Gereizt hat ihn an dem Projekt vor allem, "dass es um ganz normale Menschen geht, die plötzlich in existenzielle Situationen geraten und Verantwortung übernehmen müssen. In allen ,Dekalog €˜-Episoden wird ja von diesen verhängnisvollen Momenten erzählt, in denen sich Figuren entscheiden müssen und dabei nicht anders können, als ihre moralische Integrität zu verlieren. Zudem wird in allen Folgen von ,Dekalog €˜ bewusst oder unbewusst gegen die zehn Gebote verstoßen. Mal in bester Absicht, mal weniger, mal gewollt, mal ungewollt - wie im Leben auch. Aber warum haben dann diese Zehn Gebote eigentlich noch so eine starke Bedeutung"?

Der opulente Stoff wird auf der Bühne des Kleinen Hauses verhandelt - mit gerade mal sechs Schauspielern: Mira Fajfer, Victoria Voss, Jan Gebauer, Marc Schöttner, Enrico Spohn und Felix Steinhardt.

Die Filmreihe umfasst insgesamt zehn Stunden, Nerlichs Theaterfassung immerhin noch drei. Worauf hat er sich konzentriert? "Wir spielen natürlich nicht die Filme nach, sondern versuchen, unsere eigene Umsetzungen der einzelnen Geschichten zu finden, aber was uns sehr wichtig ist, ist die unerbittliche Genauigkeit, mit der Kieslowski auf die - meist ratlosen, suchenden - Gesten seiner Figuren schaut. Detailgenauigkeit und Durcheinander. Menschenleben, die sich kreuzen und wieder aus den Augen verlieren. Irritierende, verstörende Situationen, die den Alltag durchbrechen. Das auf den Punkt zu bringen in einem Theaterraum, ohne ständig irgendwelche Erklärtexte aufzusagen, die ganzen Handlungssprünge, Ortswechsel, einzuflechten und trotzdem an der jeweiligen Geschichte und der jeweiligen Personenkonstellation dranzubleiben, ist eine große Herausforderung."

 

Premiere ist am Donnerstag, 6. April, 20 Uhr, Kleines Haus. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.