Ingolstadt
Wo die Ungeheuer lauern

Tanja Kinkel las bei den Ingolstädter Literaturtagen aus ihrem Roman "Schlaf der Vernunft"

04.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:51 Uhr

Ein fesselndes Buch: Tanja Kinkel las in der Ingolstädter Buchhandlung Hugendubel. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Ein ausdrucksstarkes Cover: Man sieht die Mundpartie einer Frau in verschwommenem Schwarz-Weiß, was zum einen auf eine weibliche Hauptfigur hindeutet, zum anderen Assoziationen zu den Fahndungsfotos der Terroristen der 70er-Jahre weckt.

Dazu in Schwarzrotgold der Titel "Schlaf der Vernunft" - einem berühmten Werk Francisco de Goyas entliehen: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Schließlich fragt Tanja Kinkel (46) in ihrem neuen Roman über den Deutschen Herbst nach eben jenen Ungeheuern, nach den Gründen, wie und warum junge Menschen aus bürgerlichen Verhältnissen radikalisiert wurden, wie und warum sie zu Staatsfeinden und Mördern wurden. Wie sie selbst und die Familien der Täter und Opfer mit den Taten, mit der Schuld, mit der Ungewissheit leben - auch Jahrzehnte danach. Die Bestsellerautorin Tanja Kinkel wurde hauptsächlich bekannt durch ihre historischen Romane, von denen etwa "Die Puppenspieler" für die ARD verfilmt wurde. Jetzt legt sie mit "Schlaf der Vernunft" einen spannenden Roman über die Gegenwart vor. Am Dienstagabend las sie daraus im Rahmen der Ingolstädter Literaturtage in der Buchhandlung Hugendubel vor etwa 70 Besuchern.

Tanja Kinkels 17. Roman beginnt im Jahr 1998 - und mit einem Brief. Einem Brief, der schon zwei Tage ungelesen zwischen Rechnungen und Werbung auf dem Schreibtisch von Angelika liegt. Sie wagt ihn nicht zu öffnen, weil er aus der Justizvollzugsanstalt kommt, in der ihre Mutter eingesperrt ist. Angelikas Mutter Martina ist "das Biest von Nürnberg", eine verurteilte Terroristin. Sie hat ihre kleine Tochter verlassen, um in den Untergrund zu gehen. Und jetzt also dieser Brief. Eine Todesnachricht? Angelika fasst sich ein Herz und öffnet den Brief: Ihre Mutter soll nach 20 Jahren Haft begnadigt werden.

Mit diesem Anfang, mit Angelikas Zerrissenheit, mit ihren Erinnerungen und ihrer Wut, beginnt Tanja Kinkel ihre Lesung. Und stellt gleich danach eine weitere Hauptfigur vor: Alex, den Sohn eines Opfers. Er ist Journalist geworden. Als er von der bevorstehenden Begnadigung erfährt, kommen die alten Fragen wieder hoch. "Es war für ihn keine juristische Frage, wer schuld am Tod seines Vaters war, es war eine moralische."

Es sei ihr wichtig gewesen, den Familien der Opfer den gleichen Erzählraum einzuräumen wie denen der Täter, erklärt Tanja Kinkel später. Denn in all den Büchern, Filmen, TV-Dokus - egal ob fiktiv oder sachlich - blieben die Opfer zumeist außen vor.

Und so beleuchtet sie in "Schlaf der Vernunft" das Thema Terrorismus und den Weg von der Politisierung zur Radikalisierung aus verschiedenen Perspektiven - und auf zwei Zeitebenen: der Gegenwart und dem Zeitraum zwischen 1967 und 1977. Etwa zwei Jahre hat die Autorin für das Buch recherchiert. Klaus Kinkel, der ehemalige Bundesjustiz- und Außenminister, gewährte ihr Einblicke in Gesprächsprotokolle aus den 80er-Jahren. Anfang der 90er-Jahre hatte er in der sogenannten Kinkel-Initiative einen mutigen Vorstoß in Sachen "Versöhnung" und vorzeitiger Entlassung inhaftierter RAF-Gefangener gewagt.

Tanja Kinkel erzählte viele Details über den Arbeitsprozess, über die Figuren, die zeithistorischen Umstände, ihre eigenen Erinnerungen an die Fahndungsplakate, ihre Beweggründe, diesen Roman überhaupt zu schreiben. Es ist ein fesselndes Buch geworden, das nicht nur etwas über den Deutschen Herbst erzählt, über Schuld und Verantwortung, sondern auch etwas über Eltern und Kinder, über das, was uns prägt.

Tanja Kinkel: Schlaf der Vernunft, Droemer, 448 Seiten, 19,99 Euro.