Ingolstadt
Winter im Herzen

Großer Beifall: Johanna Schall inszeniert Shakespeares "Wintermärchen" am Stadttheater Ingolstadt

25.03.2012 | Stand 03.12.2020, 1:41 Uhr

Ingolstadt (DK) Zehn Stufen für ein ganzes Königreich. Man steigt und schreitet und strauchelt. Man fängt sich, jagt hinauf, hinab, stürzt erneut. Es ist ein Balancieren auf schmalen Pfaden. Jeder unbedachte Schritt, jeder falsche Tritt, jedes kleine Stolpern, jede Nachlässigkeit kann ernsthafte Folgen haben. Der Weg ist mühsam, gesäumt von Voyeuren, die Fallhöhe enorm.

Ein sprechendes Bühnenbild (Horst Vogelgesang) hat Johanna Schall für ihre Shakespeare-Inszenierung im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt gewählt, zeigt es doch nicht nur das beschwerliche, kurzweilige, heikle Auf und Ab der Figuren, sondern verweist auch auf die merkwürdige Konstruktion des Stücks, das zwischen Tragödie und grotesker Komödie schwankt, inhaltlich wie stilistisch große Sprünge wagt und Abgründiges nicht scheut. Und erinnert darüber hinaus an das Theater der griechischen Antike.

„Das Wintermärchen“ zählt zu Shakespeares „Romanzen“, entstand wenige Jahre vor dem Tod des Dramatikers (um 1611) und wirkt befremdlicher als seine bisherigen Stücke: dunkler im Ton, kryptischer in der Sprache, komplizierter, was die Geschichte anbelangt, experimenteller in der Wahl der dramatischen Instrumente, enttäuschender bezüglich des Personentableaus. Denn neben Leontes, diesem Tyrannen aus Leidenschaft, der Othello und Jago in sich vereint, der aus plötzlicher wahnwitziger Eifersucht Familie und Königreich vernichtet, bleibt das restliche Stückpersonal sonderbar blass.

Mit Leontes’ Eifersuchtsattacke beginnt das Drama. Und sie wirkt umso heftiger, weil Johanna Schall ihr „Wintermärchen“ so leicht und mit so anmutiger Komik beginnen lässt. Wie alle der Reihe nach von hinten diese Stufen erklimmen – erst sieht man eine Kinderhand, dann folgt ein Apfel, ein Aktenkoffer wird heraufgewuchtet, bis nach und nach die ganze Hofgesellschaft über das Podest klettert –, wie unbeschwert und spielerisch dieser Beginn gestaltet wird, wie köstlich die königlichen Hut-Kronen mit der eleganten cremeweißen Garderobe (Kostüme: Jenny Schall) harmonieren, wie heiter die ganze Szenerie anmutet, wähnt man sich schon in einem von Shakespeares Liebeshändeln.

Wie jäh das Erwachen, als Leontes’ Misstrauen gegen Hermione geweckt wird und sich in Sekundenschnelle zur Raserei steigert. Seine Ehefrau und sein bester Freund! Ist das Kind unter ihrem Herzen gar von Polixenes? Unbeherrschter Zorn und unbegrenzte Machtfülle ergeben eine explosive Mischung. Drei Akte lang währt Leontes’ Ausbruch, bevor die Komödienhandlung einsetzt.

Und Sebastian Kreutz gelingt es in bewundernswerter Weise diesen Furor, dieses ekstatische Toben ob der (vermeintlich) öffentlichen Schmach, so darzustellen, dass auch der Schmerz dahinter sichtbar wird. Das Leiden am Verrat, am Verlust. Es ist ein Wüten aus dem Innersten der Seele, das sich in Aggression und Erbarmungslosigkeit entlädt. Sebastian Kreutz (das bewies er schon in der „Winterreise“) beherrscht die Kunst, dieses emotionale Inferno in all seinen Zwischentönen zu zelebrieren, Leontes’ eigenen Unglauben darüber genauso wahrhaftig zu spielen wie dessen Blutrausch, den Wahnsinn, den Horror, den Nihilismus. Was für ein spektakulärer Auftritt!

Dagegen haben es die anderen Figuren und ihre Darsteller schwer, wenn sie ihre Sache auch mit großer Präzision (vor allem in der Sprache), Energie und einer kühnen Mischung aus Tragik und Komik meistern.

Annika Martens als geschmähte Gattin Hermione, Teresa Trauth als deren mutige „Anwältin“ Paulina, Richard Putzinger als königlicher Freund/Feind Polixenes, Anjo Czernich als dessen Sohn Florizel, Marie Ruback als verlorene Tochter Perdita, Sascha Römisch als loyaler Camillo sowie Matthis Harbers als Mamillius und personifizierte Zeit. Und dann gibt es natürlich noch das Trio der Erzkomödianten, die dem Abend skurrile Farbtupfer aufsetzen: Nik Neureiter, Peter Reisser und Rolf Germeroth – drei Clowns aus Unverzagtheit, jeder delikat in seiner Narrheit.

Das große Verdienst von Regisseurin Johanna Schall liegt darin, dass sie diese eigenartige Gemengelage aus Shakespeares „Wintermärchen“ – von Frank Günther ausdrucksvoll neu übersetzt und von Donald Berkenhoff klug komprimiert – so kongenial auf die Bühne bringt: das Schwere und das Leichte, die Katastrophe und den Kalauer, die Tiefe und das Vordergründige, die Tragödie und die Komödie, die winterliche Schwermut und das Frühlingserwachen, ein Happy End, das keines ist. Ein Abend zum Lachen, Seufzen, Staunen und Mitleiden, für den es nach zweieinhalb Stunden begeisterten Applaus gibt.