Ingolstadt
Wanderung in extremen Klanglandschaften

Franz Schuberts "Winterreise" in einer neuen Bearbeitung mit Daniel Behle und dem Oliver-Schnyder-Trio

28.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:09 Uhr

Zwischen Wut, Schmerzensschrei, Verzweiflung und Melancholie: Daniel Behle trägt Schuberts "Winterreise" zusammen mit dem Oliver-Schnyder-Trio im Ingolstädter Festsaal vor. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Daniel Behle lässt den Liederzyklus "Winterreise" von Franz Schubert so beginnen, wie er ausklingt: mit zwei leeren Quintakkorden des Leiermanns, gespielt von Violine und Cello: in Monotonie erstarrende Musik. Erfrierende Klänge, die den Zyklus gleichsam einrahmen.

Wenn das Oliver-Schnyder-Trio am Ende im Ingolstädter Festsaal das letzte Lied anstimmt, scheint endgültig jedes Leben, jede Schönheit aus der Musik gewichen zu sein. Der Pianist Oliver Schnyder beugt sich weit über die Tastatur und zupft düstere Basstöne, der Cellist Benjamin Nyffenegger streicht ersterbende Töne auf den Saiten und Andreas Jankes Geige lässt das Leierkastenmotiv dicht am Steg gespielt fahl wimmern. Daniel Behle singt ganz leise, kraftlos, todesnah. Der Held der "Winterreise\" ist nur noch ein sterbender Klangschatten seiner selbst.

Es ist ein kühner Kunstgriff, tief in die Partitur des wohl berühmtesten und am meisten vorgetragenen Liedzyklus der klassischen Musikliteratur einzugreifen. Schuberts Musik ist in diesen "schauerlichen" Liedern (so nannte der Komponist sie selbst) so genial, so packend, dass sie eigentlich in der Originalversion bereits immer funktioniert. "Eine ,Winterreise' die nicht gelingt, das gibt es eigentlich nicht", sagt sogar Behle, der übrigens nicht nur Sänger ist, sondern auch Komponist. Aber warum dann die Erweiterung des Notentextes, warum eine Darstellung zusammen mit einem Streichtrio?

Vielleicht, weil manchmal sehr alte Musik eine Aktualisierung im Sinne des Komponisten benötigt. Die Hörgewohnheiten haben sich in den vergangenen 200 Jahren verändert, Harmonien, Klangfarben, Motive jenseits eines tradierten Schönheitsideals sind längst zur Gewohnheit geworden. Die Intensität eines Werkes muss mit neuen Mitteln hervorgekehrt werden. Behle geht in seiner Bearbeitung sehr vorsichtig vor, setzt die zwei neuen Klangfarben sparsam und gezielt ein. Im ersten Lied über die Fremdheit des Wanderers dauert es lange, bis zum ersten Mal Cello und Violine mit heiseren Flageolett-Tönen das Klavier verstärken - eine erschreckende Färbung, die sich zwischen die satten Klaviertöne zwängt. Um dann im nächsten Moment den Sänger auf weich vibrierenden Schönklang zu betten.

Im folgenden Lied, "Die Wetterfahne", fügen die Streicher frostige Tremoli als unterkühlte Kommentare hinzu. Später hören wir unheimliche Triller in "Gefrorene Tränen" oder tröpfelndes Pizzicato in "Auf dem Flusse".

Noch faszinierender als alle Streicher-Exkurse des großartig spielenden Oliver-Schnyder-Trios aber ist der Sänger Daniel Behle selbst. Behles wunderbarer lyrischer Mozart-Tenor könnte für diesen Liedzyklus fast ein Hindernis sein. Zu schön, zu poetisch, zu weich und schwelgerisch ist diese Stimme eigentlich für das Grauen der Einsamkeit des Wanderers. Aber Behle entgeht dieser Gefahr, indem er seinen Tenor permanent in Extreme treibt. Mal singt er so balsamisch schön, dass man es kaum fassen kann und unwillkürlich an die bewegliche Stimme von Fritz Wunderlich denken muss. Dann wieder brüllt er (etwa in "Erstarrung") den Schmerz mit einer Wucht, mit einem Pathos heraus, dass es die Grenzen dessen zu überschreiten droht, was man in einem traditionellen Liederabend sonst zu hören bekommt. Das Blut gefriert einem fast, wenn Behle "Die Krähe" singt. Während die Geige eisiges Flageolett spielt, ahmt Behle förmlich den schrägen Tonfall des schwarzen Vogels nach. Oder Behle singt so leise, so zurückgenommen, dass seine Stimme fast untergeht zwischen dem Klaviertrio.

Vor allem jedoch begeistert an dieser Interpretation, dass Behle in jedem Augenblick genau weiß, was er tut und was er damit bezweckt. Dass er eine psychische Grenzsituation auslotet, ein Lebensgefühl am Rande des Todes. Ein Kranksein an der bloßen Existenz, die vielleicht so nur mit Schuberts schmerzvoller Musik adäquat erfasst und geschildert werden kann.

Erschütterung im Saal, nachdem der letzte, leise Ton verklungen ist. Dann zaghafter Beifall, der nach und nach in Begeisterungsstürme übergeht.

 

Die "Winterreise" haben Daniel Behle und das Oliver-Schnyder-Trio auch für Sony Music auf CD eingespielt und zwar in der Originalversion und in der Version von Behle mit Streichtrio-Begleitung.