Ingolstadt
Tabledancing mit Moses

25.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:17 Uhr

Perfekter Tabledance: Moses erwacht nur mithilfe von Sean Garratt, Nick Barnes und Mark Down (von links) zum Leben. - Foto: Blind Summit Theatre

Ingolstadt (DK) Kein Bier für Moses. Er sitzt am Bühnenrand, zwischen Marc und Sean, und hält seine Wasserflasche fest. Schließlich war die Tour auf den Berg Nebo (808 Meter!) kräftezehrend. Und Moses ist immerhin schon 120 Jahre alt.

Moses ist eine Puppe. Eine Schlenkerpuppe mit mürrisch-kantigem Kartonkopf. Nackt - bis auf ein Paar feine schwarze Schühchen. Seine Schöpfer hatten mit Kleidung herumexperimentiert. Einen Mantel schneidern lassen, in dem er wirklich gut aussah. Stiefel ausgesucht. Aber beides zusammen sah irgendwie scheußlich aus. "Und wir mochten die Schuhe lieber", sagt Mark Down, Puppenspieler, Regisseur und Mitbegründer des Blind Summit Theatre, das am Sonntagabend beim "Horizonte"-Festival gastierte.

"The Table" ("Der Tisch") heißt die Produktion, die die so innovative wie preisgekrönte Londoner Truppe zweimal in der Werkstatt zeigt. Weil das Stück auf einem Tisch spielt. "Nur der Tisch und ich", stellt die Puppe gleich zu Beginn klar. Herz, Hirn, Sprache und Bewegungskraft verleihen ihr drei Spieler: Mark Down leiht ihr die Stimme, bedient Kopf und den linken Arm, Nick Barnes hat die Puppe gebaut und bewegt beide Beine, und Sean Garratt ist der rechte Arm der Puppe und außerdem zuständig für den Hintern, mit dem die Puppe auch schon mal lasziv wackeln kann. Die größte Herausforderung: sich gegenseitig Raum zu schaffen, gut aufeinander zu achten, um reagieren zu können.

Der Beginn: Drei Männer in Schwarz betreten die Bühne - "Guten Abend!", "Good evening!", "Welcome!" -, richten den Blick aufmerksam erst ins Publikum, dann ganz konzentriert auf die Puppe. Und in diesem fokussierten Moment beginnt die Puppe ihr Eigenleben. Durchmisst den Tisch mit großen Schritten ("one, two, three und ein bisschen"), probt expressive Gesten, wagt sich an den Abgrund, blickt neugierig ins Publikum, flirtet mit Vivian aus der ersten Reihe, zeigt Dressman-Posen, plappert dabei vor sich hin, verrät seine Lieblingsecke ("Von hier aus hat man einen fantastischen Ausblick auf den Tisch"), sinniert, kratzt sich mit dem rechten Fuß am linken Bein, zeigt, was er kann: artistische Sprünge in Zeitlupe, Moonwalk, Disco-Dance, grummelt, wütet.

Denn jahrelang musste die Puppe ihr Talent auf Kindergeburtstagen verschleudern. Bis sie - endlich! - eine Anfrage des Jewish Community Centre erreichte: Ob er sich vorstellen könnte, die letzten Stunden des biblischen Moses darzustellen? Und ob! Schluss mit niedlich. Schluss mit lustig. Also spielt er auch das: das Zwiegespräch mit Gott. Die Verzweiflung. Den Tod.

Aber immer wieder gibt es Exkursionen: eine Einführung in die Grundregeln der Puppenspielkunst (Fokus, Atmung, "fix points"), aberwitzige philosophische Betrachtungen über das Dasein, über Freiheit und Abhängigkeit, über den biblischen Moses und seine fünf Bücher. Es ist eine spektakuläre One-Man-Show zwischen Stand-up-Comedy und Improtheater, zwischen Beckett und "Matrix". Hinreißend. Klug. Witzig. Und der Zuschauer blendet schnell aus, dass erst die drei Puppenspieler Moses zum Leben erwecken.

Aber es ist wirklich harte Arbeit. Wer den Blick tatsächlich von Moses reißen kann und die Schauspieler beobachtet, sieht, wie konzentriert und involviert sie sind, sie leiden buchstäblich mit Moses mit, ihre Körper spiegeln seine Bewegungsabläufe, sie sprechen stumm die Texte mit. Marc Down, Nick Barnes und Sean Garratt blicken sich an. Nicken. "Ja, merkwürdig. Er zieht uns da rein."

Erschöpft sind die Drei nach einer Stunde Spiel. Verschwitzt von der anstrengenden Arbeit. Nick Barnes, der für Moses Füße zuständig ist, muss schließlich die ganze Zeit mit gebeugtem Rücken spielen. Trotzdem nehmen sie sich Zeit für ein Gespräch. Und erzählen von ihrer Art des Puppenspiels, das sich auf die Form des japanischen Bunraku stützt, und vom Entstehungsprozess der "Table"-Show. Denn zuallererst gab es die Puppe. Sie war eigentlich für eine Produktion von George Orwells "1984" gedacht und sollte Goldstein darstellen, den Staatsfeind Nummer eins. "Doch das hat nicht funktioniert, denn als er fertig war, war er so liebenswürdig, dass jeder ihn gern hatte - und wir eine neue Show für ihn erfinden mussten", erklärt Marc Down. Dann gab es wirklich einen Auftrag des Jewish Community Centre - eine zehnminütige Geschichte über Moses. Ein Jahr später machten sie daraus über vielfältige Improvisationen eine abendfüllende Show: eine Puppe auf dem Tisch - mit detailliertem Manuskript und exakter Bewegungschoreografie.

Natürlich gibt es ein Double für Moses - und eine ganze Galerie an Köpfen. Denn so ein Kopf hält gerade mal ein Dutzend Shows, die Hände müssen nach etwa 30 Vorstellungen ausgetauscht werden. Aber unzweifelhaft ist er die Nummer eins. Die drei blicken auf die Puppe. Moses nickt. Und wie denken sie über ihn? Marc Down lacht: "Ganz klar: Er ist unser Boss."