Ingolstadt
Slapstick-Alarm im Backstage-Bereich

Selten so gelacht: Caroline Stolz bedient im "Nackten Wahnsinn" ein Präzisionsuhrwerk der Komödienmechanik

10.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:05 Uhr

Katastrophale Generalprobe: Regisseur Lloyd (Sascha Römisch) schwört sein Ensemble ein: Ingrid Cannonier, Mara Amrita, Wolfgang Böhm, Teresa Trauth, Ralf Lichtenberg, Marc Simon Delfs (von links). - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Natürlich ist das Stück "Nackte Tatsachen", an dessen Perfektionierung dieses britische Tourneetheater im ersten Akt arbeitet, eins aus der Klipp-Klapp-Komödien-Fabrik mit Gags aus der Klamottenkiste und Personal aus dem Klischeeladen. Aber Michael Frayn belässt es dabei nicht. Denn er hat eine Farce über die Farce geschrieben. "Noises off" heißt die im Original. Mit diesem Befehl wird im Theater Ruhe hergestellt, ehe sich der Vorhang hebt. Hierzulande ist sie unter dem Titel "Der nackte Wahnsinn" als Screwball-Comedy mit hohem Tempo bekannt.

Michael Frayn also dreht die Schraube noch ein wenig weiter und präsentiert dem Publikum Einblicke ins vertrackte Zusammenspiel von Vorder- und Hinterbühne. Während man im ersten Akt Zeuge einer desaströsen Generalprobe wird, in der die zweitklassigen Schauspieler Auf- und Abtritte versemmeln, Requisiten vergessen, Türen wahlweise nicht auf- oder nicht zugehen, sieht man im zweiten Akt, der einen Monat später spielt, eine Vorstellung von hinten. Dann nämlich wird die Bühne um 180 Grad gedreht, und der Zuschauer hört den Text, den er nun schon kennt, aber sieht, was er normalerweise nicht sieht: persönliche Animositäten, Affären, Alkoholprobleme. Und auch im Backstage-Bereich gibt es hohen Slapstick-Alarm. Der dritte Akt schließlich zeigt die letzte Tourneevorstellung ein paar Monate später wieder von vorn: Das Bühnenbild ist längst ruiniert, die Schauspieler sind komplett zerstritten, die Gags laufen aus dem Ruder, weil das Timing nicht stimmt oder Requisiten fehlen, und alles endet im Chaos.

Die Idee zu diesem Stück soll dem britischen Dramatiker übrigens gekommen sein, als er eines Abends die Aufführung eines seiner Stücke von der Seitenbühne aus sah und feststellen musste: "Von hinten ist es lustiger als von vorn."

Theater auf dem Theater also, das verdoppelt die dramatische Kommunikationsstruktur und potenziert den Witz. Vor allem dann, wenn gute Schauspieler schlechte Schauspieler spielen. Und von diesen hat Regisseurin Caroline Stolz, die Michael Frayns "Nackten Wahnsinn" im Großen Haus inszeniert, eine Menge.

Ingrid Cannonier etwa brilliert als ehemaliger Bühnenstar Dotty Otley, die als Haushälterin Mrs Clackett mit Schürzchen und grauen Puschen ständig im Kampf mit Sardinen, Zeitung und Telefon ist. Weil Dotty darüber hinaus ständig mit Kollegen anbandelt, gerät das diffizile emotionale Gleichgewicht innerhalb der Tourneetruppe rasch ins Wanken. Sascha Römisch gibt köstlich einen Provinzregisseur zwischen resignativer Verzweiflung und Herzensbrecherallüren. Die meisten Lacher sahnt sicherlich Sandra Schreiber als Brooke ab, die ihre Vicki nicht nur mit völlig outrierten Gesten spielt, sondern stoisch die immer gleichen Posen samt eingeübtem Text abliefert - ganz gleich, ob Situation oder Partner Flexibilität erfordern würden. Hinreißend! In Wolfgang Böhm als Garry, mit dessen Bühnenrolle Roger sie ein Schäferstündchen plant, hat sie einen perfekten Spielpartner. Für seinen phänomenalen Treppensturz samt Überschlag gibt es zu Recht Szenenapplaus. Aber auch alle anderen ziehen aus ihren doppelten Rollenspielen wahnwitzige Momente: Teresa Trauth als Belinda/Flavia (der gute Geist der Company kann ganz schön zickig sein), Ralf Lichtenberg als Frederick (ein Neurotiker, der als Philip mit Haarteil- und Unterhosenwitzen reüssiert), Ulrich Kielhorn als schwerhöriger Selsdon, Marc Simon Delfs als überforderter Inspizient Tim und Mara Amrita als abgehetzte Regieassistentin Poppy.

Tür auf, Tür zu, treppauf, treppab, Sardinen rein, Zeitung raus, Liebe, Triebe, Hiebe. Regisseurin Caroline Stolz bedient die Komödien-Maschinerie mit großer Souveränität. Tempo, Rhythmus, Energielevel, der krachende Verbalhumor - hier stimmt einfach alles. Jedes Rädchen ist präzise justiert, dass die Gagmaschine schnurren kann. Und das tut sie.

Über acht Türen verfügt das überdimensionale Puppenhaus im englischen Landhausstil (Bühne und Kostüme: Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens), mit dem sie ihre erstklassig zweitklassige Theatertruppe auf Tournee schickt. Acht Türen im Gleichklang auf- und zuklappen zu lassen, erfordert hohe Konzentration. Und dieses theatrale Chaos anzurichten, noch viel mehr. Dass alles federleicht wirkt, der ironische Kommentar stets mitschwingt und die Leidenschaft für das Theater auch, macht diese Inszenierung so vergnüglich. Was für ein Kraftakt für alle Beteiligten. Das Publikum weiß es zu schätzen. Nach gut zweieinhalb Stunden (inklusive Pause) gibt es tosenden Beifall.

Vorstellungen bis 27. Februar 2018, Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.