Ingolstadt
Schorf auf der Seele, ein Bier in der Hand

Großer Jubel: Donald Berkenhoff setzt Kate Tempests Stück „Wasted“ im Kleinen Haus in Szene

28.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:54 Uhr

Ingolstadt (DK) Der Crash: Man hört den Aufprall. Man sieht ein Schwarz-Weiß-Foto des Unfallfahrzeugs. Auf dem Boden liegt ein Toter. Zehn Jahre ist es her, seit Tony bei einem Autounfall gestorben ist. Anlass für seine Freunde Ted, Danny und Charlotte, auf ihr eigenes Leben zurückzublicken. Was ist aus ihnen geworden? Aus ihren Träumen? Ted hat einen Anzugträgerjob, in dem er seine Lebenszeit verschwendet, aber eine Freundin, mit der er bei IKEA seine Zukunft plant. Charlotte ist Lehrerin – vielleicht sogar an einer Brennpunktschule. Danny ist immer noch in einer Band, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und weigert sich erwachsen zu werden. Alle drei sind frustriert. Die Partys der unbeschwerten Jugend sind vorbei. Katerstimmung macht sich breit. War es das? Kommt noch was? Oder wer? Wie hätte Tony gelebt?

„Wasted“ heißt das tieftraurige und hochpoetische Stück der britischen Musikerin und Schriftstellerin Kate Tempest (Jahrgang 1985), das am Samstagabend unter der Regie von Donald Berkenhoff im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt umjubelte Premiere feierte. „Wasted“ kann viele Bedeutungen haben: verschwendet, vertan, verwüstet, betrunken, kaputt, verkümmert, öde. Und weil der Begriff so ambivalent ist, lässt der Regisseur zu Beginn alle Übersetzungsmöglichkeiten über die Leinwand scrollen.
 
Da ist das Saallicht noch an, und die drei Darsteller stehen in grauen Jogginghosen und 1-, 2-, 3-Shirts vor dem Publikum.  Sie plaudern miteinander, lächeln, sehen sich um, wenden sich an die Zuschauer. „Wenn wir ehrlich sind, dann haben wir keinen blassen Schimmer, was ihr hier eigentlich macht.“ „Was wir alle hier machen.“ „Wir haben euch nichts zu sagen.“ Sagen sie. Und springen hinein in eine Geschichte, in der Tonys Unfall zugleich den Anfang und das Ende markiert. Die Welt ist aus den Fugen durch seinen Tod – und jeder der drei hat einen anderen Weg beschritten. Jetzt, zehn Jahre nach diesem Ereignis, treffen sie sich und hinterfragen ihre Entscheidungen oder das Fehlen von Entscheidungen. Sie stecken fest im Hier und Jetzt an diesem Ort. Taumeln im Kopf zwischen großem Hype und kleinem Glück, zwischen Utopie und Desillusionierung, Gummibaum und Abenteuer. Wunde Herzen, leere Blicke, Schorf auf der Seele, ein Bier in der Hand.
 
Regisseur Donald Berkenhoff hat dieses Stück, das nicht nur von der Verzweiflung erzählt, sondern vor allem vom Zweifel, fulminant in Szene gesetzt. Das fängt schon bei der Besetzung an: Marc Simon Delfs ist ein zarter, in sich gekehrter, wehmütiger, feinfühliger Ted, der äußerst facettenreich spielen kann – und  selbst die Nachwirkungen des Rausches mit federleichter Komik paart. Felix Steinhardt gibt den ewigen Danny-Boy, der nichts wagt und nichts gewinnt, kühn und kauzig, liebenswert entscheidungsschwach. Yael Ehrenkönig triumphiert als Charlotte: eine Getriebene, vermeintlich stark, aber höchst verletzlich. Eine kluge Entscheidung ist es, auch den toten Tony auf die Bühne zu bringen: Maximilian Haberzettel sitzt mal hier, mal dort, auf der roten Couch, mit einem Drink in der Hand und blutüberströmten Gesicht, schweigend. Er ist nicht nur Anspielpartner, Adressat für all die Katzenjammer-Reden, er zeigt auch die Präsenz des toten Freundes. Und weil immer wieder der Crash in Bild und Ton aufblitzt, wird  klar, wie stark dieser Moment, dieser Verlust im Leben der anderen nachwirkt.
 
Kate Tempest hat die Spielszenen mit chorischen Passagen verwoben. Letztere sind abstrakter in Inhalt und Form, sorgsam komponiert, geben staccatoartig den Rhythmus vor und werden von Stefano Di Buduo hauptsächlich durch Videoprojektionen umgesetzt, denen eine ganz eigene Ästhetik innewohnt: flackernde Bilder, verzerrte Stimmen, amorphes Material, Körperkult, Fantasien von Macht und Rausch. Bisweilen fühlt man sich an „Trainspotting“ erinnert – auch dort ging es um (physische wie emotionale) Grenzerfahrungen. David Rimsky-Korsakow schafft dazu einen spannenden Sound aus Lärm, Sprechchören und Minimal Music. Und alle drei – Regie, Video und Musik – erzählen diesen Stoff  einer irgendwie verlorenen Generation auf berückende Weise.
 
Sehr genau hat Kate Tempest diesen Mitdreißigern zugehört, die mutlos oder träge in ihren Biografien zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht feststecken. „Diese Welt gehört nicht mehr uns!“ , heißt es an einer Stelle. Die Rebellion der Jugend ist verpufft, aber in der Erwachsenwelt haben sie keinen Platz, sondern nur eine Nische gefunden.
 
Es ist ein präziser, hochpoetischer, musikalischer Text, der nicht umsonst von einer Musikerin – Judith Holofernes ist vor allem als Sängerin der Band Wir sind Helden bekannt – ins Deutsche übersetzt wurde. Donald Berkenhoff hat daraus eine konzentrierte, intensive, mitunter komische Spiel- und Denkfassung gemacht, die alle an- und berührt. Denn das Stück kreist um die Frage nach dem richtigen Leben, um Wege, Umwege, Abwege, Auswege. Theater für Herz und Hirn!

 

Vorstellungen bis 28. März, Kartentelefon (0841) 30547200.