Ingolstadt
Musikalische Gesetzesbrecher

Bei Ragna Schirmers beeindruckendem Klavierabend beim Konzertverein Ingolstadt geht es um die künstlerische Freiheit

25.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:00 Uhr

Im Dickicht der Tonarten: Ragna Schirmer gelang ein beeindruckender Themenabend. Das Konzert wurde mitgeschnitten, BR Klassik sendet es am 26. Januar 2017 um 20.03 Uhr. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Ragna Schirmer betritt die Bühne des Ingolstädter Festsaals, verbeugt sich kurz und beginnt auf dem Flügel zu spielen. Auf und ab wogen die Läufe, gebrochene Akkorde türmen sich, Schlussfiguren enden im Nichts, Tonfiguren scheinen sich in fremden harmonischen Gefilden zu verirren. Was ist das? Eine Improvisation der Pianistin? Nein. Es ist Bach, auch wenn es überhaupt nicht nach Bach klingt.

Denn das Barockgenie ist als Formalist bekannt. Seine Kompositionen sind generalstabsmäßig konzipiert. Und dann das? Das ungewöhnliche Werk hat den Titel "Chromatische Fantasie und Fuge" und ist ein singuläres Meisterwerk. Denn Bach hat offenbar hier eine Klavierimprovisation niedergeschrieben.

Die Fantasie ist eine perfekte Einleitung für den Themenabend der Pianistin. Ragna Schirmer hat das Konzert unter den Titel "Über die Freiheit der Form" gestellt. Und sie hat dafür Kompositionen der größten Formalisten zusammengestellt. Neben Bach, den Fugen-Arithmetiker, Haydn, den Begründer der Sonatenform, und natürlich Beethoven, der alle Strukturen auf den Prüfstand stellte. Immer wieder greift Ragna Schirmer zum Mikrofon und erläutert, warum sie diese Werke ausgewählt hat. Sie erzählt von der Dialektik von Gesetzen und Formen, die natürlich erst etabliert sein müssen, damit man sie brechen kann.

Ausgewählt hat sie Werke, die paradigmatisch eine Gratwanderung darstellen, indem sie zwischen Freiheit und Gesetzestreue changieren.

Auf die "Chromatische Fantasie" mit der wilden Toccata und der strengen Fuge trifft das besonders zu. Natürlich ist Ragna Schirmer bewusst, dass die Fantasie für Cembalo geschrieben wurde. Aber sie geht absichtlich über die Möglichkeiten des Zupfinstruments hinaus. Anders als etwa Glenn Gould versucht sie nicht, das Cembalo auf dem Flügel zu imitieren, sozusagen "Clavicembalo" zu spielen. In diesem Sinn klingt ihre Interpretation mit dem weichen Anschlag, den donnernden Bässen, den pathetischen Zuspitzungen fast altmodisch-romantisch. Und ist doch auch wieder sehr modern, weil sie auf die präzise Durchhörbarkeit aller Stimmen achtet. Weil jeder Gedanke mit analytischer Intelligenz herausgearbeitet ist.

Etwas anders die späten Haydn-Variationen in f-Moll. Auch dies ein Werk zwischen den musikalischen Formen, halb konventioneller Variationensatz (mit zwei Themen), halb Sonate. Ragna Schirmer präsentiert besonders den geschickten Klangkünstler Haydn. Sie lässt schnelle Passagen geheimnisvoll schillern, Motive melancholisch glühen. Was für großartige Klavierkunst! Und dann Händel mit der Suite g-Moll. Unter den Komponisten des Abends ist er am wenigsten ein Formalist - aber natürlich ein Meister der Tanzformen. Die Freiheit gibt Schirmer den Sätzen durch ihre Art der Interpretation, die genau dem barocken Stil folgt, mit ihren gedrechselten Verzierungen entspricht - bis hin zur Passacaille, die Schirmer als romantisches Effektstück inszeniert.

Eigentlich ist es von der barocken Manier, manchmal nur musikalische Skizzen mit Leben zu erfüllen, bis zur Aleatorik des zeitgenössischen Komponisten John Corigliano nur ein kurzer Weg. Der Amerikaner geht dekonstruktiv bei seiner "Fantasia on an Ostinato (über das Thema der 7. Sinfonie von Beethoven)" vor. Er scheint die Musik des zweiten Satzes der Sinfonie zu zerlegen und beginnt bei dessen Essenz: dem Lang-Kurz-Rhythmus. Ragna Schirmer spielt das unnachahmlich, indem sie mit einer besonderen Technik ein dreidimensionales Klanggebilde verschiedener gleichzeitig aufleuchtender Rhythmen erzeugt. Bruchlos geht sie dann zum Original über, zu Beethovens letzter Klaviersonate. Eine kraftvolle, kluge Interpretation gelingt ihr. Ein eckiger Kopfsatz und eine erstaunlich flüssig formulierte Arietta, die nicht nur tänzelt, sondern fast wie ein Jazzstück zu swingen scheint. Bis alle Figuren in endlosen Trillerketten sich rauschhaft im Übersinnlichen auflösen. Ein grandios gespielter Geniestreich.

Erst nachdenklicher, dann enthusiastischer Applaus - und keine Zugabe. "Es gibt Stücke, danach kann man einfach nichts mehr spielen", entschuldigt sich die Künstlerin.