Ingolstadt
Mozart tänzelt

28.07.2015 | Stand 02.12.2020, 20:58 Uhr

Dirigent oder Vortänzer? Andrés Orozco-Estrada leitet das Mozarteum-Orchester Salzburg in Ingolstadt - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) War Mozart ein grimmiger Komponist? Wünschte er sich ein tobendes und wütendes Orchester voller extremer Ausbrüche, harter Bläserattacken und massiv donnernder Paukeneinsätze? Diesen Eindruck könnte man haben, wenn man den Stilwandel der vergangenen Jahrzehnte beobachtet. Seit die Originalklangbewegung die Vorherrschaft in den Konzertsälen übernommen hat, sind die Mozart-Interpretationen ernster, düsterer, rauer geworden.

Die süßliche Mozartkugel-Ästhetik mit ihrem samtigen Orchesterklang und den schleppenden Tempi – dieser Stil ist inzwischen bereits fast vergessen. Aber muss Mozart wirklich so ruppig gespielt werden, wie ihn Nikolaus Harnoncourt und seine Schüler verstehen?

Der kolumbianische Dirigent Andrés Orozco-Estrada geht einen anderen Weg, wenn er zum Abschluss der Audi-Sommerkonzerte das Gastspiel der Salzburger Festspiele im Ingolstädter Festsaal dirigiert. Der 37-jährige aufstrebende Dirigent, der seit Kurzem Chef des HR-Sinfonieorchesters ist, leitet Mozarts „Jupiter-Sinfonie“, als wäre sie ein einziger großer Tanz. Der Heroismus (entsprechend dem Beinamen, den die Sinfonie von einem Verleger erhielt) ist bei ihm kaum zu spüren. Die kräftigen Akkordschläge am Anfang des Kopfsatzes sollen nicht erschrecken: Sie sind vielmehr nichts anderes als ein volltönender Beginn, eine Art Frage, für die es eine leise singende Antwort im dritten und vierten Takt gibt. Der Mozart von Orozco-Estrada swingt im besten Sinne. Kein Ausbruch, kein Forte, das unnatürlich herausragt, das nicht eingebettet ist in einen musikantischen Zusammenhang. Dazu tänzelt der Kolumbianer auf dem Podest vor dem Mozarteum-Orchester Salzburg, als wollte er die Musiker inständig bitten, alles noch eleganter, noch graziöser darzustellen.

Den langsamen Satz nimmt der in Wien ausgebildete Kolumbianer mit recht flüssigem Zeitmaß. Die Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten fließen eilig dahin, Zusammenhänge zwischen den Motiven sind so stets offensichtlich. Der dritte Satz, „Menuetto“, ist bereits ein Tanzsatz, aber Orozco-Estrada betont noch den Dreierrhythmus. Im Finale müssen sich die meisten Dirigenten entscheiden, ob sie in ihrer Deutung eher auf die sinfonische Form setzen oder auf die fugenhafte Polyfonie. Dem Kolumbianer gelingt irgendwie beides. Eigentlich müsste ein Dirigent mindestens zehn Arme haben, um die zahlreichen Einsätze zu geben und die unzähligen spannenden Melodiebögen der Instrumentalgruppen zu verfolgen. Aber Orozco-Estrada gleicht das durch noch eiligere Bewegungen aus, formt Motive blitzschnell, wendet sich ruckartig von rechts nach links und wieder zurück und schafft das Unmögliche: Übersicht zu behalten im Dickicht dieser vielleicht besten Partitur aller Zeiten. Das klingt dann wie ein unendlich komplexer Sinfonie-Fugen-Tanz. Das Salzburger Orchester geht mit und spielt wendig, virtuos, teilweise auf historischen Blasinstrumenten.

Ganz anders geht es nach der Pause weiter – und nicht ganz so überzeugend. Franz Schuberts As-Dur-Messe wird gegeben, ein Werk, das in überhaupt keiner konzeptionellen Beziehung zur „Jupiter-Sinfonie“ steht. Orozco-Estradas Schlagtechnik verändert sich spürbar. Der Dirigent tänzelt nicht mehr durch das Stück, er stemmt es wie ein Schwerarbeiter. Denn Schubert, der grandiose Melodiker, versucht sich hier im opernhaft-symphonischen Genre. Gewaltige Kontraste bereits im einleitenden Kyrie, interessante Instrumentationen, die die Themen in unterschiedlichem Lichte erscheinen lassen, ungewöhnliche Harmoniewechsel, eine ausgedehnte Fuge – all das kennzeichnen das gewichtige Werk. Nicht jedoch die sonst für den Komponisten so typische Melodienseligkeit. Während der Salzburger Bachchor mit größter vokaler Schlagkraft und Intonationssicherheit das Publikum im Festsaal offenbar schier zermalmen möchte, setzt Oroszco-Estrada das Mozarteum-Orchester nicht mit gleicher Mächtigkeit ein. Immerhin können sich die vier Solisten gegen den Chor-Orkan durchsetzen: Besonders Anna Lucia Richters unglaublich wendiger, in den Höhen klarer, unverbrauchter Sopran hinterlässt einen hervorragenden Eindruck. Fast ebenso der warme Alt von Katharina Magiera, der glanzvolle Tenor von Julian Prégardien und der ausdrucksstarke Bass von Hanno Müller-Brachmann. Ein lautstarker, kraftvoller Ausklang der Sommerkonzerte also. Und die Entdeckung eines wunderbaren Dirigenten.