Ingolstadt
Mehr als nur Stadttheater: Die Ingolstädter Bühne ist seit 50 Jahren ein vorbildliches Zentrum für Kultur in der Region

28.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:16 Uhr

Zur Stadt hin ausgerichtet: Das Theater ist auch aus der Vogelperspektive eine eindrucksvolle Architektur. - Foto: Schalles

Ingolstadt (DK) Um die Bedeutung des Stadttheaters in Ingolstadt zu begreifen, ist es von Vorteil, sich die Stadt einmal aus der Vogelperspektive anzusehen. Je näher man an die Innenstadt heranrückt, desto mehr Gebäude lassen sich identifizieren: die großen Festungsbauten an der Peripherie des Zentrums, die beiden Schlösser, die Universität, das Münster.

Aber kaum ein Gebäude hat eine so auffällige und ungewöhnliche Erscheinung wie das Gebäude von Hardt-Waltherr Hämer. Die dicht bebauten Straßenzüge zum Stadtinneren scheinen vor ihm zurückzuweichen, als besäße es Verdrängungskraft. Wie eine halb offene Muschel ist der polygonale Flachbau auf den Marktplatz hin orientiert, also dem Stadtinneren. Mit einer riesigen Fensterfront blickt er dem Stadtgeschehen entgegen, lädt ein hereinzutreten und ist damit wie eine Verlängerung des Forums, des Markts. Kein Zweifel, das Stadttheater ist ein genialisches Bauwerk an einem außergewöhnlichen Platz. Er ist bereits optisch der Ort, an dem Geschicke und Geschichte, Kultur und Politik der Stadt verhandelt und verarbeitet werden. Er ist der Ort der Kultur schlechthin. Vor 50 Jahren wurde das Theater eröffnet, der Beginn einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte. Die Bedeutung des Stadttheaters ist sogar so außergewöhnlich, dass es schwerfällt, irgendeine andere vergleichbare Institution in der Region zu nennen. Intendant Knut Weber hat in einer Festrede zuletzt die rein quantitativ messbare Bedeutung des Hauses kurz umrissen: Jährlich würden 140 000 Tickets für Theatervorführungen verkauft. Aber das sei noch nicht alles. Rund 300 000 Menschen würden pro Jahr den Hämer-Bau betreten, schließlich finden im Festsaal noch zahlreiche andere Veranstaltungen statt, von der Hochzeitsmesse bis zu zahlreichen Bällen, dem Auftritt der Chippendales und klassischen Konzerten. Fast jeder Ingolstädter hat dieses Haus in seinem Leben schon einmal betreten, viele werden damit große Erlebnisse verbinden.

Dass das Stadttheater auf eine solche Geschichte zurückblicken kann, hat natürlich viel mit den Menschen, die dort wirken zu tun. Mit zahlreichen grandiosen Schauspielern, deren Karrieren in Ingolstadt begannen. Mit dem Intendanten Ernst Seiltgen, der die Geschicke des Hauses 22 Jahre lang lenkte und traumhafte Zuschauerzahlen erreichte, mit Wolfram Krempel, der diese Arbeit fortsetzte, mit Peter Rein, der eine zeitgemäßere Theaterästhetik einführte und schließlich auch mit Knut Weber.

Er hat 2011 dem Haus wieder seinen alten Namen zurückgegeben: Aus dem Theater Ingolstadt wurde wieder ein Stadttheater. Damit einher ging eine spannende neue Programmatik. Weber öffnete das Theater noch stärker gegenüber der Stadt, ging mit seinen Projekten noch stärker in den öffentlichen Raum, verknüpfte mit Inszenierungen wie den spektakulären Spielzeiteröffnungen Öffentlichkeit und Bühne noch intensiver.

Das Stadttheater ist so ungewöhnlich erfolgreich, weil es sensibel auf die Bedürfnisse des Publikums einging und gleichzeitig billigen Populismus vermied. Selten haben Inszenierungen heftig provoziert, so gut wie nie kam es zu Skandalen. Zum Nachdenken haben dennoch sehr viele Aufführungen angeregt.

Bis heute hat das Stadttheater allein auf sein Schauspielensemble gesetzt - und unterscheidet sich damit grundlegend von den meisten benachbarten Häusern, die auch noch über ein symphonisches Orchester verfügen und eigene Ballett- und Opernproduktionen anbieten. Die Begrenzung garantierte finanzielle Handlungsfähigkeit und enorme Wirtschaftlichkeit. Kaum ein anderes Theater in Deutschland kommt pro Ticket gerechnet mit so geringen Subventionen aus. Dennoch ist das Haus für mehr ausgelegt, es besitzt einen großen Orchestergraben und bietet genug Raum sogar für romantische Opern. Naheliegende Chancen werden da leider nicht genutzt. In Ingolstadt ist ohnehin seit Jahrzehnten das Georgische Kammerorchester beheimatet. Es existiert und muss nicht zusätzlich finanziert werden. Da ist es schwer verständlich, warum in Ingolstadt keine eigenen Opern inszeniert werden. Der zusätzliche Kostenaufwand wäre gering.

Städtische Bühnen sind in sehr vielen deutschen Kommunen die hervorstechenden Kulturinstitutionen. In Ingolstadt allerdings ist die Situation eine andere. Das Stadttheater hier steht so gut da, dass es das gesamte sonstige Kulturleben in den Schatten zu stellen droht. Es arbeitet seit Jahren hervorragend, wo es an anderen Stellen kriselt (wie beim Georgischen Kammerorchester) oder wo interessante und wichtige Initiativen bisher kaum wirklich aufblühen konnten (wie das Museum für Konkrete Kunst). Das Stadttheater steht auch deshalb so erhaben in der Kulturlandschaft, weil es ringsherum so wenig andere bedeutende Projekte gibt. Hier wurden und werden Chancen nicht genutzt. Denn warum sollte sich nicht das wiederholen, was sich vor 50 Jahren ereignete? Die Stadtväter hatten die Courage, die kleinste Stadt Deutschlands mit eigenem Theaterensemble zu werden. Die Ingolstädter haben damals in das Kulturleben der Zukunft investiert und sind reich belohnt worden.

Heute dagegen herrscht allenthalben Entschlusslosigkeit, Verzagtheit, Desinteresse, Prokrastination. Eine so herausragende und bedeutende Architektur wie der Hämer-Bau ist in den vergangen 50 Jahren in Ingolstadt nirgends mehr entstanden. Aber sie ist heruntergewirtschaftet, bietet zu wenig Raum für die Werkstätten, eine Sanierung wird schon viel zu lang in die Zukunft verschoben. Jahrzehnte hat es gedauert, bis das neue und dringend benötige Museum für Konkrete Kunst nun endlich in Angriff genommen wird. Das Stadttheater hingegen konnte seinerzeit bereits sieben Jahre nach dem Stadtratsbeschluss eröffnet werden. Das Georgische Kammerorchester fristet seit über 25 Jahren in dieser Stadt ein Schattendasein und schöpft ganz und gar nicht seine Möglichkeiten aus. Überhaupt existiert in der Großstadt Ingolstadt außer dem Theater keine Kulturinstitution mit einer eigenen anspruchsvollen Architektur - kein Museum, kein Konzertsaal, keine Ausstellungshalle.

Vielleicht gibt es eine Lehre, die man aus den Erfahrungen mit dem Stadttheater Ingolstadt ziehen kann: Es zahlt sich aus, groß zu denken und wichtige, ehrgeizige Kulturprojekte voranzutreiben. Es lohnt sich. Nur Mut!