Ingolstadt
"Mehr Theater für mehr Menschen"

Podiumsdiskussion im Stadttheater Ingolstadt: Migration und neue Medien als große Aufgaben der Theater

24.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:17 Uhr

Über "Theater von morgen" diskutierten gestern (von links nach rechts) Torsten Meyer (Universität Köln), Brigitte Dethier (Intendantin Junges Ensemble Stuttgart), Camilla Schlie (Theater Erlangen), Azadeh Sharifi (Internationales Theaterinstitut) und Wolfgang Schneider (Universität Hildesheim). - Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Als das Stadttheater Ingolstadt am 21. Januar 1966 eröffnet wurde, feierte die Stadt das Ereignis mit einer ganzen Festspielwoche und vielen Gastspielen. Auch der 50. Geburtstag des Hämer-Baus an der Schlosslände wird nicht nur mit einem Festakt, sondern gleich mit einem ganzen Festival begangen. Dabei richtet Intendant Knut Weber seinen Blick in die Zukunft, auf das Theater und das Publikum von morgen.

Die Jungen Theatertage versammeln unter dem Titel "Horizonte" vier Eigenproduktionen und neun Gastspiele aus verschiedenen Städten und Ländern, die ein breites Spektrum des Kinder- und Jugendtheaters abbilden. Darüber hinaus gibt es Gespräche zu neuen Stadttheatermodellen, dem Theater, dem Publikum, den Stoffen und den Räumen von morgen. Die erste Podiumsdiskussion gestern Vormittag im Foyer des Stadttheaters beschäftigte sich mit dem "Theater von morgen". Wichtige Aspekte waren dabei die Bedeutung der neuen Medien für Publikum, Spielpläne und Erzählweisen und die Frage, wie Migration neben dem gesellschaftlichen Wandel auch das Theater, seine Inhalte und Strukturen beeinflusst. Auf dem Podium befanden sich Brigitte Dethier, Intendantin des Jungen Ensembles Stuttgart, Torsten Meyer, eigentlich Professor für Kunst und ihre Didaktik an der Universität Köln, der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schneider (Universität Hildesheim) sowie Azadeh Sharifi vom Internationalen Theaterinstitut. Die Moderation übernahm Camilla Schlie, Theaterpädagogin am Theater Erlangen.

Wer über "Theater von morgen" spricht, muss sich zunächst mal mit Begrifflichkeiten auseinandersetzen. Beispielsweise mit den "digital natives". Im Deutschen heißt das "digitale Ureinwohner" und meint Personen, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind, die neuen Medien von Kind auf nutzen und damit auch Eigenschaften wie Multitasking oder visuelle Orientierung mitbringen - im Gegensatz zu den "digital immigrants" ("digitale Einwanderer"), die diese Welt erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben. Torsten Meyer sprach bei den nach 1980 Geborenen auch von der "Generation Y" (als Nachfolger der "Generation X") oder auch der "Generation C", wobei das "C" etwa für "creativity", "computerized", "always clicking" oder auch "copy/paste" steht. Meyer brachte Beispiele aus der Kunst und versuchte sie auf das Theater zu übertragen. Man müsse sich die Möglichkeiten der neuen Medien nutzbar machen und das Drama beispielsweise nicht mehr als Ziel, sondern als Material begreifen.

Wolfgang Schneider antwortete darauf, dass doch gerade das Drama den Menschen wesentlich beschäftige. Zwar verstehe er das Theater als "permanenten Prozess des Umdenkens", plädierte aber gleichzeitig dafür, "dass wir nicht aus den Augen verlieren, was am Theater relevant ist. Theater ist eine Schule des Sehens." Es gehe vielmehr darum, Freiräume zu schaffen. "Das werden wir aus der digitalen Ära lernen müssen: Dass es nicht mehr den klassischen Theaterraum gibt", dass man mit Black Box arbeiten, nach draußen gehen könne oder überall dorthin, wo Menschen sich begegnen.

Schon am Samstag hatte Wolfgang Schneider beim Weißwurstfrühstück im Gespräch mit Kulturreferent Gabriel Engert seine Thesen über neue Modelle zum Theater der Stadt, über "Vielfalt und Teilhabe" erläutert. Denn es gehe nicht nur darum, Theater zu sehen und lernen, Zeichen zu decodieren, sondern auch zu spielen und spielen zu lassen. Er bedauerte, dass "Kulturpolitik ganz oft von der Finanzpolitik bestimmt" werde, plädierte für eine "theatrale Grundversorgung", größere Experimentierfreude, Interdisziplinarität, Formenvielfalt und mehr dezentrale Theaterarbeit (in der freien Szene, auf dem Land). Seine Forderung: "Mehr Theater für mehr Menschen." Denn laut Statistik gingen nur acht Prozent der Bevölkerung regelmäßig ins Theater.

Im zweiten Teil der sonntäglichen Diskussion ging es um "postmigrantisches Theater". Und Azadeh Sharifi erzählte am Anfang von ihrer eigenen Situation, als sie, geboren 1980 im Iran, 1988 mit ihrer Familie nach Deutschland flüchten musste, hier in die Welten von Astrid Lindgren, Michael Ende oder Enid Blyton eintauchte und dabei feststellen musste: "Keine Geschichte hat von mir erzählt." Erst in den Büchern des syrisch-deutschen Autors Rafik Schami fühlte sie sich zu Hause. Ihre Dissertation schrieb sie über "Theater für alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln". Sharifi fordert ein Umdenken der Theater, sowohl was Themen und Ästhetiken als auch das Personal betrifft. Denn zum einen gebe es kaum dramatische Texte, die sich mit der Situation der Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation in Deutschland auseinandersetzen, zum andern seien Theaterkünstler mit Migrationshintergrund immer noch die Ausnahme. Wie etwa Shermin Langhoff, die 2013 Intendantin des Berliner Gorki-Theaters wurde. Und die sich genau für dieses Thema starkmache. "Unsere Gesellschaft ist vielfältig und postmigrantisch - und das sollte im Kinder- und Jugendtheater der Normalfall sein", sagte Sharifi.

Brigitte Dethier ging in ihrer Antwort auf die drei "P"s ein: Publikum, Programm, Personal. Im Publikum seien die Kinder- und Jugendtheater gut aufgestellt. Schon durch den gemeinsamen Theaterbesuch in Kindergärten und Schulen sei der gesamte Bevölkerungsschnitt vertreten. Nachbessern müsste man im Programm ("Der Bildungskanon muss auf den Prüfstand") und beim Personal. Aber hier gebe es gerade einen Wandel.

Ob dieser großen Aufgaben - von der Integration über neue Formensprachen und Geschichten bis zur Umstrukturierung - brauche das Theater vor allem eines, so Moderatorin Camilla Schlie in ihrem Fazit: "großen Mut".