Ingolstadt
Ein Roman fast ohne Handlung

Ingolstädter Literaturtage: Navid Kermani las im Kulturzentrum neun aus seinem Buch "Sozusagen Paris"

15.05.2017 | Stand 02.12.2020, 18:07 Uhr

Sozusagen Literatur: Navid Kermani erläutert die spielerische Konstruktion seines neuen Romans "Sozusagen Paris". - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Navid Kermani ist ein bedeutender Mann. Ein Intellektueller, der fast ständig präsent ist in den Medien, teilweise, weil er sehr viele Aufsätze und Bücher veröffentlicht, teilweise auch, weil er immer wieder gebeten wird, politische Ereignisse zu kommentieren. Kermani (49), der in Siegen aufgewachsene habilitierte Orientalist und Sohn iranischer Eltern, ist so etwas wie der Mann der Stunde. In einer Zeit, in der Islam und Islamismus, nach Deutschland einwandernde Moslems immer mehr zum Thema des öffentlichen Diskurses werden, ist er genau der Typus Intellektueller, den man sich wünscht: ein aufgeklärter, kluger, maßvoller, hochgebildeter Moslem. Ein Schriftsteller, der Brücken bauen kann zwischen den Kulturen.

So ist es eigentlich kein Wunder, dass Moderator Thomas Kraft den Abend im Rahmen der Literaturtage nicht gleich mit der Vorstellung von Kermanis neuem Buch "Sozusagen Paris" begann, sondern mit einem Gespräch über die Rolle des Autors im öffentlichen Leben. Worauf er eine verblüffende Antwort bekam. Denn Kermani versteht sich weniger als Figur der breiten Öffentlichkeit, denn vielmehr als Schriftsteller. "Das ist eine sehr einsame Arbeit", sagte er. Und dann schilderte er die Stille am Schreibtisch, das Schreiben ohne Unterstützung des Internets, das ihn nur ablenken würde. Die Anfragen, im Bundesrat eine Rede zur Feierstunde "65 Jahre Grundgesetz" zu halten, oder der Wunsch, ihn zum Bundespräsidenten zu wählen, kämen "lediglich von außen" und seien nicht etwas, das er anstrebe. Natürlich würde es ihn freuen, dass seine Bücher durch seine Bekanntheit inzwischen mehr Leser fänden. "40 000 oder 7000 Leser machen einen Unterschied." Aber die wahre Belohnung seiner Arbeit sei der Kontakt zum Leser, die Zuschriften, die Reaktionen.

Kermani hat viel veröffentlicht und dabei ein enorm breites Spektrum abgedeckt - von wissenschaftlichen Werken, politischen Aufsätzen, journalistischen Reiseberichten und Reportagen bis hin zu Romanen. Obwohl Letztere ihm besonders wichtig zu sein scheinen, kommen sie bei Lesern und Kritikern eher nicht so gut an. Auch wenn Navid Kermani es vielleicht nicht so gerne hören wird: Als in der Öffentlichkeit stehender deutscher Intellektueller ist er vermutlich bedeutsamer denn als Literat.

Ein besonders kritisches Echo fand ausgerechnet der Roman, den Kermani an diesem Sonntagabend im Kulturzentrum neun vorstellte. "Sozusagen Paris" von der ersten bis zur letzten Seite durchzulesen verlangt einen eisernen Willen, Gefühle der Langweile zu überwinden. Kermani selbst nennt seine Erzählung "den handlungsärmsten Roman, den Sie sich denken können". Aber das ist nicht das eigentliche Problem des Buches. Vielmehr ist die Geschichte überkonstruiert, schwafelig, mit allzu geringem Erkenntniswert. Professorale Exkurse zu den Größen der französischen Literaturgeschichte wie Proust oder Balzac werden am Wohnzimmertisch einer Provinzbürgermeisterin auf Trivialmaß nivelliert.

Worum geht es in dem Roman? Der Erzähler begegnet nach 30 Jahren zufällig nach einer seiner Lesungen seiner ersten großen Jugendliebe wieder, die inzwischen zur Bürgermeisterin eines Provinzstädtchens herangereift ist. Die beiden verbringen die Nacht auf ihrem Wohnzimmersofa, über Gott und die Welt quatschend, vor allem aber über Juttas Ehe.

So mäßig der Roman sein mag: Navid Kermani war in Ingolstadt sehr wohl in der Lage, humorvoll, bescheiden, sympathisch und klug über sein Buch zu reden - etwa über die Konstruktion seines Textes, der die Situation des Erzählens, des Schreibens mit einbezieht und daher nicht nur die eigentliche Geschichte erzählt, sondern auch die möglichen Kommentare des Lektors und sogar des Lesers reflektiert.

Und Kermani vermittelt kluge Überlegungen: Dass etwa die romantische Literaturgeschichte fast ausschließlich Verliebtheitsromane hervorgebracht hat, nicht jedoch Romane, die wirklich von gereifter Liebe handeln. Diese Literatur schaffe überspannte Erwartungen an die bürgerliche Ehe und trage damit zu deren häufigem Scheitern bei.

Aber noch überzeugender ist Kermani, wenn er über sein Lebensthema spricht, die Völker- und Religionsverständigung. Die Kultur eines Landes sollte gekennzeichnet sein von Durchlässigkeit, Aufnahmefähigkeit und Offenheit. Die deutsche Kultur etwa habe im 19 Jahrhundert die jüdische Kultur aufgesogen mit Autoren wie Heinrich Heine. "Das ist das, was Kultur ausmacht", sagt er. "Kulturen, die sich das nicht mehr erlauben, die sterben ab." Zweifellos ein bemerkenswert kluger Beitrag zur neuen Leitkulturdebatte, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière kürzlich losgetreten hat.