Ingolstadt
"Als andere Karl May lasen, griff ich zur Bibel"

Feridun Zaimoglu eröffnete mit einer Lesung aus seinem Roman "Evangelio" die 24. Ingolstädter Literaturtage im Altstadttheater

27.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:14 Uhr

In "Evangelio" schreibt Feridun Zaimoglu über einen relativ kurzen Abschnitt im Leben Luthers, dafür aber einen sehr spektakulären: Es geht um die Zeit vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522, in der Luther auf der Wartburg als "Gefangener" ausharrte. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Wenn seine Romanfiguren leiden, dann leidet er mit: Hungert der Held, dann fastet auch er, und stand sein Prosa-Protagonist Martin Luther einst frühmorgens um drei Uhr auf zum Gebet, dann quälte sich auch Feridun Zaimoglu aus den Federn, denn: "Was schlecht war für mich, war gut für das Buch!" Solch tiefe Einblicke in seine Schreibwerkstatt gewährte der 1964 im anatolischen Bolu geborene Autor, als er am Mittwochabend im gut gefüllten Altstadttheater die 24. Ingolstädter Literaturtage eröffnete.

Dabei stellte er seinen neuen Roman "Evangelio" über Luthers Haftzeit auf der Wartburg vor, worin er die fiktive Figur des Landknechts Burkhard als Bewacher auf das Streben, Fühlen und Leben Luthers blicken lässt.

Schon die ersten Sätze Zaimoglus zeigten, dass diese Lesung ein Ereignis werden würde: Der Autor, ohnehin mit sonorer Bassstimme ausgestattet, schlüpfte sprachlich, gestisch, mimisch in die Rolle des rauen Ritters Burkhard - in einem guttural gurgelnden Reibeisen-Sound, der irgendwo zwischen Bud Spencer und der Hornbach-Werbung anzusiedeln ist. Ähnlich guttural dröhnend, aber eben auch in einer anderen kratzig-kehligen Bass-Tonlage lässt er seinen Luther sprechen. Verständlich, dass der somit eher performende als bloß lesende Autor das Wasserglas nie abstellt, mag die unruhige Hand mit der höchst bedrohlich schwappenden Füllung des Glases auch noch so wild über den Seiten seines Buches kreisen.

Auf die ersten Sätze dieser Performance musste das Publikum freilich 45 Minuten warten, da wie in Goethes "Faust" gleich drei Prologe vorgeschaltet waren: Im Namen der jetzt für die Literaturtage aktiven Ingolstädter Veranstaltungs GmbH begrüßte erst deren Geschäftsführer Tobias Klein das Publikum, dann interviewte Programmleiter Thomas Kraft Klein und dessen Kollegin Theresa von Fumetti über das diesjährige Programm. Auf die Frage, worauf sie sich in diesem Programm denn besonders freue, gab Fumetti fröhlich zu Protokoll, dass das "die Highlights Kaminer und Kermani" seien - wozu der ihr in der ersten Reihe gegenübersitzende Zaimoglu höflich lächelte und artig applaudierte. Drittes Vorspiel: ein Gespräch zwischen Kraft und Zaimoglu über dessen Schaffen - das dann in der Tat erhellend war.

Denn so erfuhr das Publikum durch Krafts kluge Fragen, dass Zaimoglu mit dem Luther-Stoff durchaus keine Gefilde betritt, die ihm fremd wären: "Als andere Kinder Karl May lasen, da griff ich zur Bibel", bald habe sich die Mutter Sorgen um ihn gemacht. Nie habe er sich in die "deutsche" oder gar "teutsche" Literatur erst einfinden müssen, um sich daran abzuarbeiten, wie ihm "Scharfrichter unter den Kritikern" vorwerfen - sie sei sein ureigenstes Metier. Er lebt seit seiner frühen Kindheit in Deutschland, "ich bin hier aufgewachsen, mein Herz, meine Gefühle sind deutsch - ich bin ein Deutscher", auch wenn diese Behauptung "mit meinem Gesicht, unter meinem Namen ein Problem ist".

Warum er in "Evangelio" aus Luthers Vita ausgerechnet die Wartburg-Zeit auswählte? Die Antwort kommt prompt: Weil Luther just in dieser Phase besonders oft Anfechtungen durch Dämonen und dem Satan ausgesetzt war - "das hat mich gereizt!". Dass er als "Spezialist für das Düster-Dämonische" gelten darf, der sich sprachlich gern ins Extreme hineinfabuliert - in einem Autoren-Duo, in dem er Theaterstücke verfasst, ist er "für die Sprache und Effekte von Verrückten, von Psychopathen zuständig!" -, das zeigten die Passagen, die Zaimoglu für den Vortrag ausgewählt hatte, da er in diesen dem Reformator und seinem Beschützer nicht nur kongenial "aufs Maul schaut", sondern auch auf andere Körperöffnungen - voll von grellen sprachlichen Bildern. Da verspricht und rät Burkhard seinem "Junker Georgen" etwa: "Ich köpft jeden Geist, der dir die Wampe walkt, friss das bisschen und scheiß das bisschen, dann ist Ruh in der Seel!". An Melanchthon lässt er Luther über Burkhards Anhänglichkeit an den Papst fluchen: "In Strumpf geschissen und Wurst gemacht!". Wenig später bekennt der Reformator in seinen Zeilen: "Mir kräht der Arsch von den Zwiebeln munter!" In einem späteren Kapitel, da der Landsknecht Schrotter fast stirbt, halten sich Frohlocken und Fäkalisches die Balance: "Heil unserm Christus, leck Du Aasgespenst den Brunz der Gottlosen, zergeh, zerfall, zerschell, heilig, heilig, heilig ist Gott!"

Das Publikum erlebte einen fulminanten Start in die 24. Ingolstädter Literaturtage!