"Sie hat mir beim Schreiben geholfen"

29.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:53 Uhr
?Ein sterbender Mann? heißt Martin Walsers neuer Roman, den er mit Thekla Chabbi in Ingolstadt vorstellte. −Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) „Ich habe da einen sogenannten ,Link‘ von Thekla Chabbi bekommen und mich damit in Internet-Foren ,einloggen‘ können“: Als der 89 Jahre alte Martin Walser diesen Satz mit deutlich hörbaren und gestisch markierten Gänsefüßchen sprach, ging ein lächelndes Raunen durch die langen Reihen der Zuhörer: Die unverhohlene altersbedingte Naivität in digitalen Angelegenheiten ließ den Autor in einem noch sympathischeren Licht erstrahlen, als er es am Donnerstagabend in Ingolstadt ohnehin schon genoss.

Mit der Einladung des bedeutenden Romanciers, der die deutsche Literaturszene seit den Blüte-Jahren der „Gruppe 47“ entscheidend prägt und als „Letzter aus der Riege der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur“ gilt, war den Organisatoren der 23. Literaturtage ein ganz großer Wurf gelungen. Wohl 250 Zuhörer mochten zu der Lesung in den großen Saal der VHS geströmt sein. Walser kam nicht allein: Auf seiner derzeitigen Lesereise begleitet ihn die 47 Jahre alte Münchner Sinologin und literarische Übersetzerin Thekla Chabbi, die er im Vorspann seines neuen Romans „Ein sterbender Mann“ als schöpferisch Mitwirkende outete. Ein aufschlussreiches Gespräch mit den beiden führte nach der Lesung der Germanist Thomas Kraft, der Walser auch einführte.

  Ungeachtet seines Alters bestritt Walser seine fast 40-minütige Lesung am Stehpult: Er stellte den von einem Freund betrogenen und daher suizidwilligen Theo Schadt vor, der in einem Online-Suizidforum kommunizieren will, sich dann aber im Münchner Tangoladen seiner Ehefrau Iris jäh in einer „Lichtexplosion“ in eine jüngere Frau verliebt. Dabei fliegt Walsers Lesung durch die erste Romanhälfte, indem er oft nur kurze Lesepartien vorträgt und vieles überspringt, ohne dass man beim Zuhören diese Sprünge bemerken könnte. Im Anschluss liest Thekla Chabbi, Tochter eines Tunesiers und einst Ehefrau von Guildo Horn, eine Passage aus der zweiten Romanhälfte, aus jenem ungefähren Drittel des Texts, der aus ihrer Feder stammt. Darin berichtet Sina, die weibliche Protagonistin des Romans, von ihrer Teilnahme an einem Tangofest in Rom und begibt sich auf die Suche nach den Spuren ihres Vaters in Algerien. Darüber, dass das Verhältnis des alten Theo Schadt zu der viel jüngeren Sina Parallelen aufweisen könnte zu dem Schriftsteller-Paar Walser/ Chabbi, wird seit Wochen spekuliert.

  Doch bleibt Thomas Kraft in seiner der Lesung folgenden Gesprächsmoderation diskret. Walser und Chabbi lernten sich 2014 bei einem deutsch-chinesischen Schriftstellertreffen in Heidelberg kennen. Als Walser die Übersetzerin eine Passage des suizidwilligen Schadt vorab lesen ließ, antwortete ihm Chabbi als „Aster“, und Walser „merkte sofort: Das ist kein Privatbrief, das ist Schriftstellerei“. Sein Protagonist Theo Schadt schlüpft nun in die Rolle des „Franz von M.“ (Walser: „Das ist natürlich Franz Moor von Schiller!“), ein Mail-Dialog entspinnt sich. Dabei hatte sich Chabbi hinter einem Pseudonym versteckt, da sie den berühmten und bewunderten großen Autor nicht offen kritisieren wollte, hatte sie doch Schadts Motivation zum Suizid nicht überzeugend gefunden. Chabbi eröffnete Walser den Zugang zu Suizid-Foren im Internet, und der begann fasziniert und begeistert darin zu lesen; aus den Mail-Dialogen zwischen Walser und Chabbi entstand der Roman, und übereinstimmend bekunden beide, dass ihre Figuren ein Eigenleben zu führen begannen. Walser präzisiert: „Es ist schön, wenn man als Autor tun muss, was die Figuren wollen!“ Am Anfang des Romans könne er daher nie wissen, wie dieser ende – „sonst bräuchte ich ihn gar nicht erst zu schreiben.“ Walser wird nicht müde, Thekla Chabbis Beitrag zum Buch zu rühmen: Als Übersetzerin sei sie auch eine Schriftstellerin, die Zusammenarbeit mit ihr habe ihn „beglückt“.

  Anders als der alte Goethe, der die Mitarbeit Marianne von Willemers an seinem „West-östlichen Divan“ verschwiegen habe, legte er Chabbis Mitschaffen von Anfang an offen. Dennoch stehen keine zwei Verfassernamen auf dem Buchtitel: „Sie hat mir beim Schreiben geholfen, aber es ist schon noch mein Roman!“ Auch könne er sich nicht vorstellen, solch eine literarische Zusammenarbeit zu wiederholen. Kondition bewies der Autor nicht nur in Lesung und Gespräch, sondern auch im Erfüllen der Signierwünsche einer schier endlos langen Schlange vor dem Lesetisch.

  Martin Walser: Ein sterbender Mann, Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro