Ingolstadt
Licht und Schatten

Begeisterter Applaus für Marco Goeckes atemberaubende Choreografie über das Ballett-Genie "Nijinski" im Stadttheater Ingolstadt

09.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:43 Uhr

Terpsichore, die Muse des Tanzes, und Diaghilew: Garazi Perez Oloriz und David Rodriguez. - Foto: Brocke

Ingolstadt (DK) Dass Genie und Wahnsinn nah beieinanderliegen, ist ein so abgedroschenes wie faszinierendes Klischee. Einschlägige Beispiele - ob van Gogh, Schumann, Hölderlin oder Nietzsche - gibt es genug. Fast ist man verwundert, dass der russische Tänzer und Choreograf Waslaw Nijinski (1889-1950) diesbezüglich bislang nur Eingeweihten bekannt war.

Denn Leben und Werk dieses schon zu Lebzeiten legendären, bereits früh an Schizophrenie leidenden Ausnahmekünstlers bieten reichlich Stoff: die geniale tänzerische und interpretatorische Begabung, die von Hassliebe geprägte erotische Beziehung zu Impresario Sergej Diaghilew, der kometenhafte Aufstieg zum Star auf Europas Bühnen, die Skandale um Nijinskis eigene, revolutionäre Tanzschöpfungen, der Bruch mit Diaghilew nach Nijinskis Heirat mit Romola, die sich Bahn brechende Krankheit, schließlich die Odyssee durch Kliniken und Sanatorien.

Marco Goecke, mehrfach prämierter Shootingstar der internationalen Tanzszene und Hauschoreograf u. a. des Stuttgarter Balletts, hat daraus bereits 2016 für Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart ein Ballett gemacht, mit dem die Company derzeit am Stadttheater Ingolstadt gastiert. "Nijinski" ist ein abstrakt-assoziativer biografischer Bilderbogen und zugleich eine getanzte Meditation über die Licht- und Schattenseiten von Kunst und Kreativität. Einer Kraft, die sich an sich selbst berauscht, die stärker ist als der Mensch, der ihr als (zerbrechliches) Gefäß dient.

Diese Kraft ist der Anfang von allem - auch des Stücks. Auf leerer halbdunkler Bühne (auch Kostüme: Michaela Springer) bewegt sich eine gesichtslose, animalisch-göttliche Gestalt: geschmeidig, kraftvoll, virtuos, angespannt, abgehackt, kreatürlich, bedrohlich, schön. Das Spiel mit Ausdruck und Können ist Selbstzweck, macht sich alles zum Material. Nach und nach kommen die Figuren hinzu: Terpsichore, die Muse des Tanzes (Garazi Perez Oloriz), Diaghilew (David Rodriguez), schließlich Nijinski (Rosario Guerra) selbst. Sie alle werden von dieser Kraft elektrisiert, beflügelt, beherrscht, versklavt.

In Goeckes eigenwilligem Tanzidiom sieht das so aus: Die 16 Tänzer - alle in schlichten schwarzen Hosen, nur durch die Oberteile differenziert - scheinen pausenlos unter immenser Anspannung zu stehen. Jeder Impuls führt zu rasend schnellen, streng formalisierten Bewegungsausbrüchen. Arme gestikulieren, Hände flattern, Köpfe rucken, Beine zucken, um plötzlich in perfekt kontrollierten Allongés, Attituden, Arabesquen und Posen zu verharren. Immer dabei: heftige Kreisbewegungen, wie sie der kranke Nijinski später zu Dutzenden zeichnen wird. Die Kraft wirkt weiter, bis zum Ende.

Goecke kombiniert klassisches Ballett - das er in den Unterrichtsszenen lustvoll parodiert - mit einem expressiven, oft zeichenhaften Stil, in den unversehens Momente ungeheurer Zärtlichkeit und/oder Sinnlichkeit eingebettet sind: beim Abschied von der Mutter (Alessandra La Bella), der ersten Leidenschaft für Freund Isajef (Luke Prunty) oder der Begegnung mit Romola (Nora Brown). Geschickt verwebt die Choreografie diese Momente mit den Meilensteinen in Nijinskis künstlerischer Biografie. Das Solo "L'Après-midi d'un faun" zu Claude Debussys gleichnamiger Musik ist weitergedacht zur homoerotischen Liebesszene. Mit weißem "Petruschka"-Kragen erleben wir Nijinski auf der Höhe seines Könnens. Fliegende Rosenblätter zitieren "Le Spectre de la rose", bevor sich Nijinksi und Romola in die Arme schließen.

Doch Debussys "Faun" ist die einzige Gelegenheit, zu der Originalmusik erklingt. Der größte Teil des Abends ist mit den beiden Klavierkonzerten von Frederic Chopin unterlegt - punktuell ergänzt um Zischen, Schreien, Röcheln oder mikrofonverstärkt geflüsterte Zitate -, und dieser rauschhaften, sensiblen, überwältigend schönen Musik fällt die Aufgabe zu, all das an Gefühl und Empfindung zu transportieren, was in der durchgespannten Strenge der Choreografie keinen Platz hat. Am anrührendsten gelingt das ganz zum Schluss: Als Nijinski seiner Krankheit (Anna Süheyla Harms) gewahr und sich selber fremd wird, verzweifelt, leidend, wütend. Angetan mit goldenen Schuhen, die ihn am Tanzen hindern, zeichnet er manisch unsichtbare Kreise auf den Boden. Die ohnehin meist umnachtete Bühne (Licht: Udo Haberland) dunkelt langsam vollends ein. Nijinski erhebt sich. Verbeugt sich. Stille.

Begeisterter Applaus im fast ausverkauften Großen Haus, ver-einzelte Bravorufe, angemessene Belohnung für 90 intensive, oft anstrengende, manchmal schmerzliche, zuweilen berührende Minuten, die auf jeden Fall eines sind: außergewöhnlich und bemerkenswert.

Noch mal am 10. und 11. März. Karten unter (08 41) 30 54 72 00.