Ingolstadt
Was bleibt?

Inspirierend und bereichernd: 17 Künstler des BBK bespielen ein Abrisshaus in Ingolstadt und begeistern damit Hunderte Besucher

19.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:11 Uhr

Foto: Cornelia Hammer

Ingolstadt (DK) Da liegt eine blonde Frau im blubbernden neo-orangefarbenen Wasser in der Badewanne, an der Wand mysteriöse, fluoreszierende Sprengsel, ein paar Stockwerke tiefer riecht es nach Wald, liegt eine dichte Schicht buntes Laub auf dem Zimmerboden. Und in einer Wohnung im Erdgeschoss kleben schwerölverschmutzte Vögel im Waschbecken. Wo früher Sofas, Küchentische oder Betten standen, stapeln sich Otto-Kataloge, hängen Matratzen an der Decke, öffnen sich fremde Galaxien oder entstehen Geräuschkulissen ohne erkennbaren Verursacher.

17 Künstler und Kreative, neun Wohnungen, fünf Stockwerke, ein Haus. Ein Haus, das es bald nicht mehr geben wird, ein Gebäude, bislang in der öffentlichen Wahrnehmung eines von vielen, ist am Wochenende Anziehungspunkt für rund 1200 Besucher, darunter auch viele ehemalige Bewohner. Sie alle entdecken, staunen, reden, wundern sich, schmunzeln, halten inne, werden Teil des Gesamtkunstwerks Stargarder Straße 15a. Bevor die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft den Wohnblock in den nächsten Wochen abreißt, haben Mitglieder des Berufsverbandes Bildender Künstler Oberbayern Nord & Ingolstadt (BBK) und Freunde die Räume erobert. Es ist eine künstlerische Besetzung mit Genehmigung, eine groß angelegte und überbordend kreative Spurensuche, eine faszinierende und hoch energetische Kunstaktion, die mitten ins Leben reicht.

Leonore Weiss, die Initiatorin des Urban-Art-Projekts, sitzt am Samstagnachmittag mit ihrer Mutter auf dem ehemaligen Sofa unter einem Gemälde ihres Großvaters und neben der leeren Schrankwand. Sie hat hier selbst gelebt und nun einen Baum, Äste und einen Spiegel in den Raum gestellt. Wurzeln, ihre Wurzeln, sagt sie und freut sich, dass das Projekt einen solchen Anklang findet. Die Küche hat Georg Ludwig Fieger in einen White Cube verwandelt. Geschirr, Schränke, Wände, Stühle, alles weiß. In Auflösung begriffen. "Ich weiß . . . Erinnerungen" nennt er vieldeutig seine Rauminstallation. Auf Spurensuche hat sich Ludwig Hauser begeben, hat versucht, in Gesprächen mit anderen Hausbewohnern eine vage Vorstellung von der Frau zu bekommen, in deren ehemaliger Wohnung er nun - ausgehend von Postern an der Wand mit Apoll und einer archäologischen Ausgrabung - wirkt: mit Möbeln aus Kellerverschlägen, mit einem Glitzerpaar auf dem Boden, mit Löchern in den Wänden. Wie wollen wir leben? Wer sind wir? Was macht uns aus? Was bleibt?

 

Die desolate Weltsituation verhandelt der Bildhauer Gerhard Brandl in seiner Wohnung im Erdgeschoss. Den Jamaika-Sondierern präsentiert er mit seinen markanten Skulpturen in einer wilden Installation das ganze Elend: Kindersoldaten, Umweltverschmutzung, Krieg, Rechtsradikalismus. Einen Turm der Verschwendung hat Andre Mennseker, einer von "diebesonderen2", aufgebaut. Im Keller hat er Tausende Plastikbecher gefunden, in einem Zimmer minutiös bis unter die Decke gestapelt und in eine blau schimmernde Installation, Kritik an den Unmengen an Plastikmüll, verwandelt. Mit Musikuntermalung von Claudius Konrad. Aleksandra Lung hängt ihre geometrischen, beweglichen Objekte mobilegleich in einen schmalen Raum, einen dichten städtischen Erlebnisraum hat hingegen Hanni Goldhardt geschaffen. Mit ihren Miniaturfiguren und gerahmten Szenen, mit Gedichten über Stadt und die Menschen an den Wänden, mit federleichten Tuschezeichnungen, die Passanten in verschiedenen Städten und Situationen zeigen. Hier können auch die Besucher ihre sichtbaren Spuren hinterlassen. Die Umrisse ihrer Schuhe werden markiert. Teil der Installation werden die Besucher auch bei Reiner Hartweg, der in seinem "traurigen Zimmerchen" oder der "geopolitischen Meditation" dazu animiert, sich auf Zetteln und auf Landkarten zu verewigen. Und bei den Jürgen Schulze locken Mikrofone und Installationen zu akustischen Mitmachaktionen.

Mit den Überbleibseln, mit vergessenen Gegenständen in der Wohnung und im Keller arbeitet wie andere seiner Kollegen auch der Geschäftsführer des BBK, Stefan Wanzl-Lawrence. Einen massiven Schrank und Bettroste hat er zerlegt und mit Hemden und anderen Fundstücken zu einer raumfüllenden Installation gehängt. In die Küche gleich nebenan bringt Susanne Pohl mit zig Barbiepuppen ein wenig Glamour in den Raum. Und ihr Sohn Timon hat im Nebenraum seitenweise Otto-Kataloge zerknüllt. Karin Roth ist sich und ihrer grafischen Kunst bei der Hommage an die Bewohner treu geblieben und hat eine Wohnung mit grafischen Mustern in ein schwarz-weißes Labyrinth verwandelt. In einen Raum hat sie einen einzelnen Stuhl gestellt. Die Leere, nachdem die persönlichen Spuren der Bewohner verschwunden sind, wie sie sagt. Maria Matschina macht den November zum Thema: mit buntem Laub und einer düsteren Installation aus Musik und Bildern. Ein leuchtendes Fadengewirr hat Markus Jordan gespannt, nebenan die Frau in der Badewanne, die auch zum Frankenstein-Jahr 2018 passen würde. Feine Netze aus Abfällen von Spinnereimaschinen webt Sonja Reuthlinger: soziale Netze, gerissene Netze, neue Verbindungen. Ihr Sohn Julian bewegt sich in dunklere Verbindungen: ins Darknet.

Ganz oben im Haus haben Johannes Hauser und Christin Estel eine Wohnung gestaltet. Und hier ist irgendwie posthum auch gleich noch Erving Goffman eingezogen, auf den sich die beiden in ihrem Kunstwerk auf Zeit beziehen. Der kanadische Soziologe (1922-1982) definiert Interaktion als eine "wechselseitige Handlungsbeeinflussung, die Individuen aufeinander ausüben, wenn sie füreinander anwesend sind". Hauser und Christin Estel bieten damit so etwas wie den kunsttheoretischen Überbau der gesamten Aktion, den Rahmen, auch im buchstäblichen Sinne: Sie umgeben Flecken, Dinge, Farben mit Holzlatten oder setzen die Besucher in Szene.

Auf dem Parcours treppauf und treppab, hinein und hinaus, geht es um viel: um Rezeption, um Erinnerungskultur, um biografische und soziologische Momente, um Wohnsituationen, um Lebensentwürfe im Mikrokosmos und im städtischen und globalen Kosmos. Es geht um Vergänglichkeit und Sichtbarmachen, um Leerstellen und Fantasie. Ein bereicherndes und inspirierendes Kunstereignis!