Ingolstadt
Höllentanz und atemlose Stille

Sol Gabetta und ihr Bruder Andrés geben ein furioses Festkonzert beim Konzertverein Ingolstadt

16.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:54 Uhr

Dunkle Töne, die sich in den Orchesterklang einschmiegen: Sol Gabetta im Ingolstädter Festsaal. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) "Stille ist die Voraussetzung von Musik", hat der Pianist Alfred Brendel bei einem Konzert in der Münchner Philharmonie einmal gesagt, als er sich allzu sehr von den vielen Hustern im Saal gestört fühlte. Aber der Satz hat auch anders herum eine wichtige Bedeutung: Hervorragende Musik erzeugt Stille.

Beim Konzert der Cellistin Sol Gabetta zusammen mit der Cappella Gabetta am Donnerstagabend herrscht einige Momente lang atemlose Lautlosigkeit im nahezu ausverkauften Festsaal. Die Ruhe ist so intensiv, dass man glauben könnte, das Publikum sei gelähmt, jede Bewegung unmöglich geworden. Der Augenblick tritt ein, als Gabetta die Kadenz im zweiten Satz des A-Dur-Cello-Konzerts von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) spielt. In dem tiefmelancholischen Satz macht sich einige Momente lang völlige Verlorenheit breit. Die Töne wollen sich nicht mehr zu Melodien zusammenfügen. Immer wieder formt das Cello Girlanden, Anflüge von sich kristallisierender Schönheit, Versuche, die dann abbrechen und in lange Pausen münden. Erfüllte Pausen des Nachhörens, wie die Musik sich im Saal ausbreitet. Sol Gabetta spielt das mit atemberaubender Intensität. Mit dem Mut, sich Zeit zu lassen, der Verzweiflung Raum zu geben.

Es ist dieser extreme Einsatz, der das Spiel dieser erstaunlichen Cellistin an diesem Abend des Konzertvereins Ingolstadt zu einem verblüffenden Ereignis werden lässt. Und natürlich auch das Einfühlungsvermögen der Cappella Gabetta unter der Leitung des Konzertmeisters und Bruders der Cellistin, Andrés. Nach der Kadenz scheint das Ensemble wie unter Schock zu stehen. Im Nachspiel ist kein wirklich lauter Ton mehr denkbar, die Melodien sind wie ein leise geflüstertes Nachbeben.

Es hilft, solche Musik nach den Regeln der historischen Aufführungspraxis zu musizieren. Und es spricht für Sol Gabetta, dass sie sich darauf einlässt. Dass sie gleichermaßen mit einem modernen Cello romantische Klassiker wie das Elgar-Konzert strahlend und volltönend spielen kann (wie jetzt in einer eindrucksvollen aktuellen Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Simon Rattle) und mit gleicher Überzeugungskraft die Musik des 18. Jahrhunderts im Originalklang.

Sie erzeugt ungewohnt dunkle, warme Töne mit ihrem Cello - das sie ohne Stachel zwischen den Knien hält -, die sich wunderbar einfügen in den Klang der Cappella Gabetta. Die Solopassagen treten nur milde hervor, sind nicht so brillant, obertonreich wie bei einem modernen Cello. Oft spielt Gabetta einfach nur die Tutti-Passagen mit dem Orchester mit. Die Orchestermusiker musizieren dazu stehend (wie so oft bei Originalklang-Ensembles heute) und mit höchstem expressiven Einsatz, über die Saiten streichen sie mit Rundbögen, die ihnen eine ganz spezifische Art der Phrasierung erlaubt - mit meist eher abschwellender Tongebung.

Dieser Stil passt perfekt zu den ausgewählten Werken. An diesem Abend konzentrieren sich Sol Gabetta und das Orchester ganz und gar auf die Musik des 18. Jahrhunderts, meist sogar auf den Sturm-und-Drang-Stil.

Einzig die eingangs präsentierten sechs Seguidillas von José de Nebra (1702-1768) passen nicht ganz ins Schema, wirken eher frühbarock. Die sehr selten aufgeführten Tanzsätze haben einen volkstümlichen Schwung, sind wie höfischer Pop, voller rhythmischem Drive, akzentuiert durch den Einsatz von Kastagnetten und Tamburin.

Die übrige Musik ist noch wilder: die Es-Dur-Sinfonia von Carl Philipp Emanuel Bach, das D-Dur-Cellokonzert von Luigi Boccerini (1743-1805) und am meisten natürlich die 6. Sinfonie des gleichen Komponisten, die den Beinamen "Casa Del Diavolo" trägt. Hier bietet das kleine Ensemble höchste Energie auf, scheint die Grenzen der eher kleinen Besetzung sprengen zu wollen. Nur der Mittelsatz ist eher zurückhaltend, dafür ist die luftig dahintappende Melodie mit unwiderstehlichem Charme und leiser Ironie gestaltet.

Und dann am Ende der irrsinnige Furientanz (der eigentlich ein fast notengenaues Zitat aus Christoph Willibald Glucks Don-Juan-Ballett ist). Andrés Gabetta gestaltet einen furiosen Hexenkessel voller furchterregender Tremolos und rasender Läufe. Das Publikum ist hingerissen, applaudiert, bis die Musiker einen Teil des Schlusssatzes noch einmal wiederholen.