Ingolstadt
High Noon

Calle Fuhr inszeniert mit "Heilig Abend" einen spannenden Thriller im Studio des Stadttheaters Ingolstadt

03.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:07 Uhr

Exzellente Taktierer: Viktoria Voss und Olaf Danner spielen meisterhaft im spartanisch ausgestatteten Studio. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Hat sie? Oder hat sie nicht? Eine Bombe deponiert, die genau um Mitternacht des Heiligen Abends explodieren soll? Das jedenfalls wird der Philosophieprofessorin Judith vorgeworfen. Man hat sie aus dem Taxi geholt und hierhergebracht. In diesen fensterlosen Raum, in dem gerade mal ein Stuhl, ein Telefon und zwei Overheadprojektoren stehen. Und in dem eine zentrale Digitaluhr unbarmherzig die Minuten zählt. 22.30 Uhr zeigt sie an, wenn Judith den Raum betritt. "Warum bin ich hier" fragt sie. Um 23.05 Uhr wird der Polizist Thomas zum ersten Mal direkt: "Wo ist die Bombe" Um 23.33 Uhr bemerkt man bei beiden die ersten Erschöpfungssymptome. Sie sitzen auf dem Boden. Er singt spöttisch: "Morgen, Kinder, wird's was geben." Um 23.40 Uhr gesteht sie. Um 23.58 Uhr ist alles wieder offen. Um 0 Uhr verlischt das Licht.

"Heilig Abend" hat Daniel Kehlmann, einer der sprachmächtigsten unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren ("Die Vermessung der Welt"), sein Stück genannt, das danach fragt, wie weit der Staat im Namen der allgemeinen Sicherheit gehen darf und ab wann sich der Bürger dagegen zur Wehr setzen muss. Diesen Konflikt um staatliche Fürsorge und individuelle Freiheit lässt er am emotional aufgeladenen Heiligabend in einem nervenzerreißenden Duell kulminieren. Und weil er auch das Publikum darüber im Unklaren lässt, ob diese Bombe nun existiert oder ob man gerade Zeuge der Willkür von Staatsgewalt wird, ist von der ersten bis zur letzten Minute Hochspannung garantiert. Zumal Kehlmann beide Seiten, den Verhörspezialisten des Staates wie die potenzielle Terroristin, mit stichhaltigen Argumenten und geschulter Rhetorik ausstattet. Welcher Zweck heiligt die Mittel?

Die Figuren tragen sprechende Namen, Dramaturgin Judith Werner weist im Programmheft darauf hin: hier der "ungläubige Thomas", dort Judith als Verkörperung von Mut, Entschlossenheit, Schönheit, man hat das Bild von ihr mit Holofernes' blutigem Haupt im Kopf.

Beide Figuren sind schwer zu durchschauen, Meister der Zwischentöne und exzellente Taktierer. Bei Victoria Voss und Olaf Danner also gut aufgehoben. Denn beide Schauspieler arbeiten stets mit großer Präzision und ziehen in diesem kräftezehrenden Zweikampf alle Register. Wie sie ihre Strategien wählen und wechseln, seine anfängliche Jovialität in hilflose Aggression umschlägt, ihr furchtsames Erstaunen (Jemand musste Judith K. verleumdet haben!) keinem Fanatismus, sondern eher einer kultivierten Kaltblütigkeit weicht, wie sie sich beide belauern, rastlos, ratlos, Worte verdrehen, Phrasen dreschen, philosophische Dilemmata wälzen - das ist klug gedacht und klug gemacht. Freiheit, Sicherheit, digitale Überwachung - die Positionen sind extrem. Und je mehr die Zeit drängt, umso intensiver wird das Spiel.

Daniel Kehlmann hat mit "Heilig Abend" ein kühnes Denkstück vorgelegt, und Regisseur Calle Fuhr inszeniert es im Studio des Stadttheaters Ingolstadt in einer geradezu spektakulären Nüchternheit. Nichts lenkt ab in diesem Duell. Alles dient der Dringlichkeit. Auch Amelie Sabbaghs Ausstattung ist spartanisch. In diesem Raum mit Uhr, Neonröhre und Telefon (Modell FeTAp 751) kann alles passieren. Und Regisseur Fuhr bringt seine exzellenten Akteure dazu, alle Eventualitäten mitzudenken, mitzuspielen. Alles ist konzentriert auf das Wesentliche. Die Dialoge kommen punktgenau. Überraschen immer wieder durch Komik, Brüche, neue Wendungen. Was ist wahr? Wem kann man trauen? Nicht mal der Uhr, so viel steht fest. Denn die 90 Minuten, die die Digitaluhr auf der Bühne zählt, passen in gerade mal 75 Minuten Spielzeit. Am Ende gibt es viele Fragen und noch mehr Applaus. Theater am Puls der Zeit!

Weitere Vorstellungen bis 30. Januar, jeweils um 20 Uhr im Studio. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.