Ingolstadt
Hat wirklich niemand etwas gewusst?

Gastspiel am Stadttheater Ingolstadt: "Auch Deutsche unter den Opfern" beleuchtet die Geschehnisse um den NSU und wird ständig aktualisiert

17.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:12 Uhr

Die Auseinandersetzung mit dem NSU beschäftigt nicht nur die Justiz. Tugsal Mogul hat darüber das Stück "Auch Deutsche unter den Opfern" geschrieben. Die Inszenierung von Sapir Heller ist am Mittwoch im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt zu sehen. - Fotos: Loeber

Ingolstadt (DK) Der Strafprozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ist einer der größten in der Geschichte der Bundesrepublik. Seit mehr als 385 Verhandlungstagen bemüht sich die Justiz vergeblich um Aufklärung. 53 Seiten umfasst die Aussage, die Beate Zschäpe nach vier Jahren Untersuchungshaft dem Gericht vorlesen ließ. Angeklagt ist sie unter anderem wegen Mittäterschaft in zehn Mordfällen sowie Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Opfer des NSU waren fast alle türkischer Abstammung. Aber eben nicht nur. "Auch Deutsche unter den Opfern" ist ein Theaterstück von Tugsal Mogul, das die Morde und den Prozess auf die Bühne bringt. Die Inszenierung von Sapir Heller ist am Mittwoch, 22. November, als Gastspiel des Zimmertheaters Tübingen in Ingolstadt zu sehen.

Frau Heller, "Auch Deutsche unter den Opfern" beleuchtet die Geschehnisse rund um den NSU. Was hat Sie daran gereizt, dieses Stück zu inszenieren?

Sapir Heller: Es gibt in Deutschland eine riesige rechtsradikale Szene. Da sind die Morde des NSU nur die Spitze des Eisbergs. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass drei Menschen elf Jahre lang durchs ganze Land reisen und Menschen ermorden, Bomben zünden, Banken überfallen und nicht entdeckt werden. Als ich das Stück las, konnte ich nicht glauben, dass all diese Ermittlungspannen passieren konnten. Mich hat vor allem gereizt, all das künstlerisch umzusetzen, um die Absurdität des Ganzen zu verdeutlichen.

 

Das Stück ist ein Recherche-Projekt von Tugsal Mogul, der den Prozess in München besucht hat und mit Rechtsanwälten und Prozessbeobachtern gesprochen hat. Die Uraufführung war 2015, der NSU-Prozess läuft immer noch. Wie geht man als Regisseurin damit um?

Heller: Eine Aktualisierung findet bei uns ständig statt. Bevor und während unseres Probenprozesses habe ich mich natürlich sehr viel mit dem Gerichtsprozess beschäftigt und diesen mehrfach besucht. Während  der Probenzeit hatte Beate Zschäpe das erste Mal ausgesagt. Wir waren live dabei, nachdem wir die ganze Nacht vor dem Gericht gewartet hatten. All diese Erlebnisse sind direkt in das Stück geflossen. Tugsal Mogul hat uns die Erlaubnis gegeben, sehr frei mit dem Text umzugehen, wofür ich sehr dankbar bin. Also habe ich mit dem Team auch Szenen gestrichen, neue geschrieben, andere ergänzt. Da im laufenden Prozess immer neue Informationen bekannt werden, aktualisieren wir auch das Stück stetig - so dass jede Vorstellung anders ist als die vorherige.

 

Was sieht man auf der Bühne? Welche Geschichte erzählen Sie?

Heller: Die Bundesanwaltschaft beharrt darauf, dass der NSU eine "singuläre Vereinigung" von drei Personen war. Was man auf der Bühne sieht, ist aber viel weitreichender. Es waren sicherlich V-Männer involviert. Einer war beispielsweise am Tatort zur Tatzeit anwesend. Der abwertende Begriff "Dönermorde" wird lange benutzt, weil man zunächst annahm, dass die Morde von einer türkischen Mafiaorganisation begangen worden sind. Relevante V-Mann-Akten werden geschreddert. Man sieht den ganzen oft absurd wirkenden Umgang des Staates bei der Aufklärung der Morde und kann gar nicht glauben, dass alles wahr ist. Trotz unseres spielerischen Umgangs - es sind immer Fakten.

 

Was war die größte Herausforderung beim Inszenieren?  

Heller: Das Stück ist sehr komisch, da es so viele Absurditäten in der Realität tatsächlich gab. Das Lachen dient dazu, die Ernsthaftigkeit der Sache zu verdeutlichen. Bei der Szene über die Opfer war uns dagegen ein würdevoller Umgang wichtig. Ich wollte, dass das Stück den Opfern gerecht wird. Diese Spannung zwischen Kunstwerk und Dokumentation war die Herausforderung.

 

Sie sind in Israel geboren und aufgewachsen, und leben seit 2008 in München. Haben Sie einen fremden Blick von außen auf die Thematik? Oder sind Sie als Wahl-Münchnerin eher ganz nah dran?

Heller: Natürlich habe ich einen "anderen" Blick drauf. Als Jüdin und Enkelkind von Holocaustüberlebenden beschäftigt mich sehr die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und der Umgang mit der Geschichte heute. Wir reden hier über Rassismus, Antisemitismus, Gewalt - das alles hat vor 75 Jahren hier in Deutschland stattgefunden und die Mehrheit der Bevölkerung überzeugt. Das ist erschreckend. Aber noch schlimmer ist der Gedanke, dass es heute in Deutschland zwischen uns Menschen gibt, die die gleiche Ideologie vertreten und vor Mord nicht zurückschrecken. Hier geht es um extreme Fälle. Aber es gibt noch sehr viele andere, die mit ihren Taten, Worten und Gedanken viel zu diesem Fremdenhass beitragen.

 

Der Strafprozess zieht sich schon mehr als 385 Verhandlungstagen hin. Glauben Sie, dass am Ende die Wahrheit steht? Gerechtigkeit?

Heller: Mit Sicherheit weder Wahrheit noch Gerechtigkeit. Es gibt zu viele Fragen, die offenbleiben und offenbleiben werden. Aber es scheint leider so, dass es auch kein großes Interesse des Gerichts, der Polizei und der Politik gibt, Dinge aufzuklären. Manches kann auch gar nicht aufgeklärt werden, weil der Verfassungsschutz zum Beispiel die Befragung von Schlüsselpersonen blockiert. Erst kürzlich wurde vom Verfassungsschutz ein Bericht über hessische NSU-Kontakte als geheim eingestuft - bis ins Jahr 2134. Das zeigt doch, dass es wirklich etwas zu verbergen gibt. Mir tun vor allem die Opferfamilien leid, die erst jahrelang selbst beschuldigt worden sind und jetzt nicht mal auf volle Aufklärung hoffen können.

 

Was soll der Zuschauer aus dem Stück mitnehmen?

Heller: Erst mal Informationen. Denn ich erlebe immer wieder, dass trotz umfangreicher Prozessberichtserstattung vielen Leuten das Ausmaß der Geschehnisse um den NSU nicht bewusst sind. Und das ist eben die Kraft dieses Theaterabends, der nicht nur die Wirklichkeit abbilden, sondern neue Perspektiven vermitteln soll. Es geht um Fakten, aber es ist auch ein Abend für Kopf und Herz. Er ist witzig und traurig zugleich. Es macht auch sehr wütend. Auch wenn wir keine Antworten geben können, wir können Fragen stellen - und Denkprozesse in Gang setzen.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

 

ZUR PERSON

Sapir Heller wurde 1989 in Israel geboren. 2008 zog sie nach München, studierte Schauspiel- und Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik und Theater und war Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Ihre Inszenierungen werden u.a. in Augsburg, Berlin und Tübingen aufgeführt. Aktuell arbeitet sie an der Inszenierung von Ionescos "Die Stühle" am Theater Hof.

 

"Auch Deutsche unter den Opfern" wird als Gastspiel des Zimmertheaters Tübingen am 22. November um 20 Uhr im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt aufgeführt. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.