Ingolstadt
"Für mich ist das die beste Orgel der Welt"

02.07.2014 | Stand 02.12.2020, 22:31 Uhr

Frischer Wind für die Orgelszene: Cameron Carpenter steht vor seiner digitalen Orgel und einer Wand von Lautsprechern - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Cameron Carpenter (33) dürfte eigentlich gar nicht auftreten. Vor zwei Wochen ist dem Organisten in seiner Berliner Wohnung eine Tischplatte auf den großen Zeh gefallen. Vier Stunden vor Konzertbeginn am Dienstag kauert er vor der gewaltigen fünfmanualigen digitalen Orgel, deren 44 Lautsprecher die gesamte Breite der Bühne des Festsaals einnehmen und präpariert mit Klebeband, Schere und kleinen roten Polstern einen alten Tanzschuh für seinen schmerzenden Fuß. Und beantwortet einige Fragen zum Konzert.

 

Haben Sie bereits Lampenfieber?

Carpenter: Nein.

 

Warum nicht?

Carpenter: Obwohl, wenn ich überhaupt jemals Lampenfieber haben würde, dann vor diesem Konzert. Denn zum ersten Mal in meinem Leben spiele ich ein Konzert verletzt. Man muss eine bestimmte Beziehung zu seinem Instrument haben. Man arbeitet nicht unter diesem Instrument, sondern man betrachtet es als Erweiterung der eigenen Persönlichkeit. Wenn das der Fall ist, ist man nicht nervös.

 

Wie geht es Ihrem Fuß?

Carpenter: Es ist nichts wirklich Ernstes. Aber es schmerzt. Seit zwei Wochen konnte ich nicht mehr üben. Und natürlich muss ich das Programm ändern.

 

Wie stellen Sie das Konzertprogramm zusammen?

Carpenter: In meinem Kopf gibt es natürlich viel mehr Werke, als ich an einem Abend spielen könnte. Ich muss einfach mein neues Schuh-Design ausprobieren. Die Ironie ist – und das ist der Beweis, dass ich kein Lampenfieber habe – dass ich gar nicht vor dem Konzert üben kann. Denn ich muss meinen Fuß schonen.

 

Wie viel üben Sie denn gewöhnlich?

Carpenter: So wenig wie möglich natürlich (lacht). Das ist bei mir völlig planlos. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die jeden Tag genau drei Stunden üben.

 

Ist es anders mit der digitalen Orgel zu musizieren als mit einer konventionellen Kirchenorgel?

Carpenter: Der Hauptunterschied ist: Dieses Instrument gibt mir alles, was ich mir immer von einer Orgel gewünscht habe. Es gibt hier keine mechanischen Probleme, keine Intonationsunreinheit. Sie klingt überall gleich. Für mich bedeutet das, ich habe zu diesem Instrument ein ähnlich verlässliches Verhältnis wie etwa ein Geiger zu seinem Instrument.

 

Haben Sie nun aufgehört, auf normalen Kirchenorgeln zu spielen?

Carpenter: Nun, gelegentlich spiele ich noch darauf. Generell vermeide ich es aber, in Kirchen zu musizieren.

 

Warum?

Carpenter: Das ist eine schwierige Umgebung, um ernsthaft Musik zu machen. Das fängt schon damit an, dass man den Organisten nicht sieht. Ich bin kein gläubiger Mensch. Und ich mag es nur nicht, in einer Umgebung zu spielen, in der Musik nicht so leicht kommerziell zu verwerten ist.

 

Aber ein Großteil der Orgelmusik ist religiös?

Carpenter: Genau. Aber es gibt noch viel mehr Musik. Ich kann genug spielen, ohne allzu sehr auf religiöse Musik zurückzugreifen.

 

Was war der Grund, als Kind Orgel zu lernen?

Carpenter: Es gibt kein Instrument mit so viel Dramatik. Ich mag Kirchen nicht besonders. Bis heute bin ich nicht besonders an klassischer Musik als Idee interessiert. Mich reizt nur aufzutreten. Und das klangliche Vokabular dieses Instruments sowie das Visuelle daran. Die Orgelmanuale wirken ein bisschen wie eine Bühne für einen Schauspieler. Und mich hat das Prozedere der Tonerzeugung gefesselt, das technische Design der Musik.

 

So sind Sie auch besonders fasziniert von der digitalen Orgel?

Carpenter: Sie funktioniert letztlich ziemlich simpel. Sie greift auf Samples zurück, Tonstücke, die vorher von anderen Orgeln aufgenommen und digitalisiert wurden. Es ist ein Instrument ohne bewegliche Teile. Das alleine ist sehr bemerkenswert. In dem Sinne, dass bewegliche Teile und Friktionen die natürlichen Feinde des leichten musikalischen Ausdrucks sind. Insofern ist der Klang dieses Instruments ziemlich traditionell. Es ist nicht sehr anders auf diesem Instrument zu spielen, als auf jeder anderen modernen Pfeifenorgel. Denn auch diese Kirchenorgeln werden heute durch ein digitales Steuerungssystem geregelt.

 

Und der Klang dieser Orgel?

Carpenter: Es gibt wenige Orgeln auf der Welt, die so kraftvoll und so reich an Klängen sind wie diese hier. Für mich ist sie die beste Orgel der Welt.

 

Was sagen Sie eigentlich zur Krise der klassischen Musik?

Carpenter: Ich finde, es sollte eine geben (lacht). Ich bin dafür. Für einige Leute bedeutet das, dass ihre Jobs gefährdet sind. Das ist bedauerlich. Aber man muss das im größeren Kontext einer sich verändernden Welt sehen. Wenn ich an mich selbst denke: Ich gebe nicht viel Geld für klassische Musik aus. Ich komme aus einer amusischen Familie. Was mir sehr wichtig ist: Ich habe so einen Zugang zu einer Welt, die die Realität nicht durch die Augen der klassischen Musik sieht. Ich kann das auch als Anekdote illustrieren: Als ich in der Julliard-School Orgel studierte, bemerkte ich, dass eigentlich alle meine Freunde ernste klassische Musik übten, aber beinahe keiner von uns seine Freizeit damit verbrachte.

 

Das verblüfft mich.

Carpenter: Das hat mich früher besorgt gemacht. Heute weiß ich: Das ist völlig in Ordnung. Es ist wichtig für mich, für die Gestaltung meiner Konzerte zu verstehen, wie der Rest der Welt Musik sieht.

 

Aber Sie müssen doch an die Musik glauben, die Sie aufführen?

Carpenter: Ja. Aber die Welt funktioniert anders. Die Leute gehen nicht wegen der Musik in die Konzerte, sondern wegen der Musiker. Das Publikum kommt wegen der großen Persönlichkeiten. Und deren Ausstrahlung spüren wir durch die großen Werke der klassischen Musik.

 

Sie spielen fast immer in sehr spezieller Kleidung.

Carpenter: Manchmal. Das sind Kostüme, die ich selber gestaltet habe.

 

In Ingolstadt auch?

Carpenter: Ja, ich nehme ein Top, das ich designt habe.

 

Warum machen Sie das?

Carpenter: Ich glaube an die visuelle Identität des Musikers. Für einen Organisten ist das sogar besonders wichtig. Jahrhundertelang wurde durch die spezifische Kirchenarchitektur der Organist im Verborgenen gehalten. In einem gewissen Sinn muss man seinen künstlerischen Ausdruck mit sehr starken, auch optischen Mitteln an das Publikum richten.

 

Warum leben Sie in Berlin?

Carpenter: Ich lebe in Los Angeles und Berlin. Berlin ist ein sehr freier und entspannter Platz. Ich ziehe es außerdem vor, außerhalb der USA zu leben.

 

Warum?

Carpenter: Die USA ist heute sozial und politisch ein sehr komplizierter Ort. In Berlin habe ich das gefunden, was ich von New York immer erwartet habe.

 

Treten Sie gerne bei Audi auf?

Carpenter: Es gibt nicht viele Firmen, die so viel Interesse an klassischer Musik haben. Das begeistert mich, nicht so sehr wegen der klassischen Musik, sondern weil es Musikern die Möglichkeit gibt, aufzutreten, Geld zu verdienen. Meine tiefste Überzeugung über klassische Musik ist, dass die Musiker etwas ändern müssen. Und diese Änderungen müssen kommerzielle Auswirkungen haben. Es gibt diese abwegige Idee, dass klassische Musik nicht kommerziell sei. Das ist übrigens völlig unhistorisch gedacht. Für Mozart etwa wäre das ein völlig irrer Gedanke. Ich respektiere Audi dafür, dass sie Musiker mit innovativen Ideen fördern. Denn für mich hat Innovation oberste Priorität.

 

Das Interview führte

Jesko Schulze-Reimpell.