Ingolstadt
Etikettenschwindel am Donauufer

"Sunset Orchestra Nights": Aydar Gaynullin begeistert das Publikum und drängt die Georgier weit in den Hintergrund

11.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:58 Uhr

Foto: DK

Ingolstadt (DK) Glück gehabt. Die letzten Regentropfen fallen, kurz bevor das Konzert am Freitagabend auf der Ingolstädter Donaubühne beginnt. Die Bühnenüberdachung kann entfernt werden, der Blick schweift frei über den Fluss, hinüber zum hell erleuchteten Neuen Schloss, hoch zu den pittoresken Wolkentürmen, die gerade hinwegziehen und blauen Himmel erkennen lassen. Später am Abend, wenn Rockmusik tobt und kocht, brennt in der Ferne hinter der Donau noch ein Feuerwerk ab. Kein Zweifel: Die Veranstalter haben recht, an diesem Abend ist der Donaustrand der schönste Ort, den Ingolstadt zu bieten hat.

Ja, Glück gehabt, wer dabei sein kann. Denn auch die Musik ist beschwingt, genialisch, mitreißend. Das hat fast ausschließlich mit der Kunst des russischen Akkordeonisten Aydar Gaynullin und seiner Band zu tun, mit Roman Zorkin, E-Gitarre, und Sergey Shamov, Drums.

Gaynullin, der bereits vor Jahren den Ingolstädtern zusammen mit dem Georgischen Kammerorchester bei einem Abonnementkonzert einen fantastischen Abend geboten hat, ist so etwas wie ein musikalisches Urvieh, eine Rampensau, ein Showmaster aller nur möglichen Musik. In dieser Hinsicht ähnelt er ein wenig Giora Feidman. Genauso wie bei dem israelischen Klarinettisten ist es eigentlich egal, was er spielt. Es klingt immer gut, und es ist immer Gaynullin - egal welche Noten gerade auf dem Notenständer liegen, ob Rock, Pop, Klassik oder Volksmusik. Und es ist auch nahezu egal, wer mit dem Akkordeonisten auf der Bühne steht und sogar, welches Instrument er spielt, oder ob er etwa mit hellem Tenor singt: Die musikalische Urgewalt, das überwältigende Showtalent, die teuflische Sicherheit und Virtuosität des Russen bläst sie hinweg, macht sie alle zu Stichwortgebern, Randfiguren.

Glück gehabt, wer diesen kleinen Mann mit den ausgeblichenen Jeans und dem schwarzen Hut einmal erleben kann.

Aber Pech für diejenigen, die neben ihm agieren müssen. Sie mögen große Künstler sein, aber sie werden zu Statisten degradiert, die im langen Schatten des strahlenden Meisters den musikalischen Hintergrund ausmalen dürfen.

Am wenigsten trifft das noch auf die Band zu. Shamovs wirbelndes Schlagzeug liefert die krachende Grundlage und Zorkins Gitarre den Counterpart für Gaynullins schwebende Akkordeontöne. Aber wo ist eigentlich das Georgische Kammerorchester geblieben? Wenn man böse wäre, würde man behaupten: Die wichtigsten Noten für die Ingolstädter Musiker sind die Pausenzeichen. Aber auch wenn sie spielen, oder es zumindest so aussieht: Ist da etwas? Ein ganzes Orchester und fast nichts zu hören? Hier wird akustische Vernichtung mit dem Lautstärkeregler betrieben. Was für ein Hohn. Das Georgische Kammerorchester wollte neue Wege gehen, wollte sich ein anderes Publikum erobern, zeigen, dass es mehr draufhat als Mozart und Beethoven, dass es frisch und jugendlich sein kann. Und was tut das Management des Orchesters? Es lässt die Musiker hinter einer Klangwolke aus E-Gitarrenjaulen, Schlagzeugdonner und Akkordeonmelos verschwinden. Als wollte man den Beweis antreten: ein klassisches Orchester habe bei Rock- und Popmusik nichts verloren.

In der Pause trifft man ein etwas ratloses Publikum und eine Audi-Mitarbeiterin, die mit vielen Worten sehr klug darüber rätselt, wie die Musiker mit dieser Art des Identitätsraubs eigentlich umgehen würden.

Selbst als in einer einzigen Nummer einmal klassische Musik auf dem Programm steht, ist die Rolle der Georgier nebensächlich. Das eher fantasielos arrangierte Medley eröffnet Gaynullin mit dem Beginn der d-Moll-Orgeltoccata von Bach (dem Dauerbrenner aller Fußgängerzonen-Akkordeonisten), geht über zu Vivaldis "Vier Jahreszeiten", bei denen ein paar Takte lang auch die Georgier mal hervortreten, um schließlich den blinden Sänger Andrea Bocelli mit einem langen, strahlenden Tenorton zu imitieren. (Kein sehr hoher Ton allerdings, bei Bocellis wäre es sicher das hohe C gewesen.) Das ist alles, was von der Musik geboten wird, die das Metier des GKO ist, die Musik, die sie am besten beherrschen.

Ansonsten: Volksmusik, Rock, Pop. Am wohlsten fühlt sich Gaynullin, wenn er die Musik spielt, die seinem Instrument am meisten entspricht: Tangos, russische Volksmusik. Hinreißend, temperamentvoll gleich am Anfang Andrey Ivanovs "Fiesta". Bei Carlos Gardels Tangos "Por una Cabeza" beweist Gaynullin, dass er auch singen kann, mit tenoralem Schmelz in den Stimmbändern. Und nirgends fühlt er sich so sicher wie bei Astor Piazzollas "Libertango" - und inszeniert fast schon mehr eine Performance als bloße Musik.

Da lässt er sein Akkordeon am Anfang atmen und stöhnen, da improvisiert er kurz ein Geburtstagsständchen, so ganz nebenbei, da flirtet er unentwegt mit dem Publikum, das aus dem Staunen kaum herauskommt. Um dann mit einer unbändigen Leidenschaft und straffem Tempo sich in den Hauptteil des Stücks zu stürzen. Was für eine Vorstellung!

Aber Gaynullin ist eine Klasse für sich, was auch immer er spielt, Nirvana oder ein Sting-Medley auf dem Accordina blasend, Bill Whelans romantischen "Firedance"oder später Queens "We Will Rock You" und Michael Jacksons "Smooth Criminal" - es klingt anders als das Original, der Gesang fehlt, und es ist doch hinreißend.

Was lernen wir daraus? Die Ingolstädter Donaubühne ist ein Konzertort voller Atmosphäre, auf dem sich Virtuosen wie Aydar Gaynullin und seine Band eindrucksvoll austoben können. Und das Georgische Kammerorchester ist überflüssig.