Ingolstadt
Es geht ums Überleben

Die gelungene musikalische Lesung "Kennen Sie das Fräulein Pollinger" mit Johanna und Veronika Bittenbinder im Ingolstädter Altstadttheater

28.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:53 Uhr

Heinz-Josef Braun begleitet seine Tochter auf der Gitarre, - Foto: ah

Ingolstadt (DK) In den Mikrokosmos der kleinbürgerlichen Schicht während der Weltwirtschaftskrise entführt die musikalische Lesung "Kennen Sie das Fräulein Pollinger" von Johanna und Veronika Bittenbinder im Altstadttheater. Ein 90 Jahre alter Text, dazu moderne Lieder - eine kontrastreiche Mischung.

Das Fräulein Pollinger ist eine Lieblingsfigur des österreich-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth. Mal Anna, mal Agnes mit Vornamen, immer aber eine arbeitslose Näherin, arbeitslos seit der Betrieb, in dem sie angestellt gewesen ist, konjunkturbedingt zusammenbricht. Was 32 Angestellte und den Arbeitgeber gleichermaßen trifft, der nun ebenso bettelarm ist, nachdem seine Reserven aufgebraucht sind, von denen er den Großteil rechtzeitig seiner Frau überschrieben hatte. Diese pointierte Ironie, die sich teils zum bitteren Sarkasmus steigert, besticht an den Texten Horváths, die Johanna Bittenbinder so völlig unaufgeregt vorträgt, dass die feinen Nadelspitzen der Worte nur umso mehr treffen. Zugleich sind Horváths Texte von spielerischer Leichtigkeit, ja gewissermaßen tröstlicher Poesie, die den traurigen Inhalt und Hintergrund mildert.

Da steht sie nun, das Fräulein Pollinger, die bei der Tante wohnende Vollwaise, und erhält von deren Untermieter Kastner den nur scheinbar gut gemeinten Ratschlag, sie solle doch praktisch sein. Was er meint, wird beim gemeinsamen Kinobesuch klar, als er sie "abgreifen will", doch ihr graut es "vor seinen Stiftzähnen". Sie träumt vom Glück zu zweit, doch die Realität sieht anders aus. Für 20 Mark sitzt sie einem Aktmaler Modell, der Metzgerssohn Harry handelt sie gar von zehn auf fünf Mark herab für eine schnelle Nummer in seinem Auto. Es geht ums Überleben, dass Anna "eine solchene" wird, wie sie der ebenfalls arbeitslose Kellner Eugen Reithofer traurig nennt. Er hat sein letztes Geld geopfert, um mit ihr ins Kino zu gehen, und als er anschließend schüchtern noch einen Spaziergang vorschlägt, hat sie ihm eiskalt erklärt: "Das kostet aber was." Und macht betroffen. Es geht ums Überleben in diesem Sozial-Mikrodrama, das wird hier besonders deutlich. Ebenso ambivalent wie die literarische Figur der Anna Pollinger, der Johanna Bittenbinder feinfühlig lesend Leben einhaucht, sind die Texte der Songs von Veronika Bittenbinder. Moderner, ruhiger Sound, inspiriert von Soul, Funk und Jazz, mit humorvoll-ironischen Texten, die einen unbändigen Lebenswillen trotz aller Widrigkeiten offenbaren. "Es fühlt sich so viel besser an, wenn es echt ist", klingt wie eine Kampfansage und ist doch sentimental zugleich. Es geht um "Freiheit", aber auch viel banaler darum, sich die Welt eben schön zu denken, wenn sie es schon nicht ist. Trotzig singt die Texterin und Komponistin "Uns geht's gut" - auch das eine Überlebensstrategie.

Heinz-Josef Braun begleitet seine Tochter auf der Gitarre, zurückhaltend, meist nur ein paar Akkorde, sodass ihre sinnlich-zarte, aber doch markante Stimme bestens zur Geltung kommt und richtig unter die Haut geht. Zweimal 45 Minuten lebt und leidet das hingerissene Publikum mit Fräulein Pollinger und Eugen Reithofer mit, darf ihren Überlebenswillen bewundern, an Emotionen teilhaben, obwohl oder gerade weil sie eher leise daherkommen.

Ein Drama der kleinen Leute, die eben nicht laut schreien. Wofür sie auch gar keine Zeit hätten, schließlich geht es ums Überleben, um Arbeit oder Einkommen für Wohnung und Essen. Ein zeitloses Thema, das auch 100 Jahre später angesichts steigender Obdachlosenzahlen, Wohnungsnot und zunehmend unbezahlbarem Wohnraum hochaktuell ist. Kräftigen Applaus und eine lange Schlange am CD-Verkauf hat sich das Trio wohlverdient.