Ingolstadt
Entwurzelte Menschen

Umjubelte Premiere: Jochen Schölch bringt John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns" auf die Bühne des Stadttheaters Ingolstadt

02.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:22 Uhr

John Steinbeck schrieb in seinem Roman "Früchte des Zorns" über die Flüchtlingsströme der 1930er-Jahre in den vermeintlich goldenen Westen. Jochen Schölchs Theaterfassung im Großen Haus wirft Schlaglichter auf die aktuelle Flüchtlingskrise. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Am Ende sitzt sie da. Betäubt noch von der Totgeburt, die sie gerade erlitten hat. Vom Verlust der Heimat. Sitzen gelassen von ihrem Mann. Müde von den Strapazen der Flucht. Bar jeder Hoffnung. Aber nicht gebrochen. Rose säugt den Fremden, lässt den verhungernden Mann an ihrer Brust trinken. Die Szene ist berühmt geworden. So lässt John Steinbeck seinen Roman "Früchte des Zorns" enden, der - als er 1939 erschien - ob seines schonungslosen sozialen Realismus' großes Aufsehen erregte, in Schulen und Bibliotheken verboten wurde, zu Drohungen gegen den Autor und Bücherverbrennungen führte.

Beschreibt er doch so drastisch wie analytisch kühl und mit großer Empathie das Schicksal der Farmer, die während der Großen Depression der 30er-Jahre zermürbt von Missernten und Staubstürmen ihr Land verlassen, um in Kalifornien einen Neuanfang zu wagen, und nichts als Demütigung, Ausbeutung, Hunger, Tod erfahren. Während die Großgrundbesitzer Nahrungsmittel vernichten, um die Preise stabil zu halten. 1940 wurde "Früchte des Zorns" mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, 1962 erhielt John Steinbeck den Literaturnobelpreis.

Der Titel verweist auf eine Bibelstelle in der Offenbarung des Johannes und im Fünften Buch Mose und beschreibt Gottes Zorn angesichts der Verfehlungen seines Volkes.

Jochen Schölch hat den Stoff nun auf die große Bühne des Stadttheaters Ingolstadt gebracht - in einer verdichteten, kraftvollen, hoch ästhetischen Form. Und dabei erzählt er nicht nur die Urgeschichte der Migration, wie sie sich heute tausendfach wiederholt, sondern erzählt von einer Welt aus den Fugen, von neuen Technologien, deren Folgen niemand überblicken kann, von Macht und Gier und Verteilungskämpfen, von menschlicher Erosion, die mit der des Bodens einhergeht.

Knapp 90 Minuten benötigt Schölch für Steinbecks 500-Seiten-Werk, das er mit gerade mal neun Schauspielern umsetzt. Darin ist alles enthalten: das inhaltliche Konzentrat, das politische Manifest, das Plädoyer für mehr Menschlichkeit wie auch die literarische Struktur. Denn im Roman unterbricht John Steinbeck immer wieder den Fluss der Erzählung um die Familie Joad, um in virtuosen, sprachgewaltigen, symbolhaften Passagen den Fokus auf die Landschaft zu richten, die Route 66, die Geschäfte eines Gebrauchtwarenhändlers, gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Dann friert Regisseur Schölch die Szene ein oder lässt sie schweigend in Slow Motion weiterlaufen, während Schauspieler an die Rampe treten, um den Text zu sprechen, Hintergründe zu liefern, zu erklären. Einzeln. Chorisch. Immer drängender. Eine Klage. Ein Aufruf zum Widerstand. Wie eine Brecht'sche Parabel.

Sparsam sind seine Gestaltungsmittel, aber doch wirkmächtig. Von Fabian Lüdicke, der an gleicher Stelle schon so spektakuläre wie reduzierte Bühnenbilder für "Alice" oder "Draußen vor der Tür" schuf, hat er sich den fast leeren Raum mit einer riesigen Plane auskleiden lassen. Einer Plane, die den harten, ausgelaugten Boden, die "Dust Bowl", symbolisiert, zudem eine metallische Struktur hat und verschiedenste Assoziationen weckt: an den trügerischen Glanz, der dem Metall innewohnt, an Industrialisierung, an endlose Wagentrecks und die Wracks, die die Straßen säumen. Dazu gibt es jede Menge Koffer, die mal zum Auto gestapelt werden, mal Lager bilden, entwurzelte Bäume, die aus dem Schnürboden ragen, die Verheißung eines Paradieses, das die Joads nie betreten werden. Und jede Menge Schwarz-Weiß-Fotos aus den 30er-Jahren, die raffiniert das theatrale Geschehen überblenden.

Jochen Schölch arbeitet mit großer Präzision. Licht, Farben (Kostüme in allen Schattierungen von Grau: Andrea Fisser), Tempo, Rhythmus, Musik (John Lurie: experimentelle, zarte Jazzlinien, bedrohliches Grund-rauschen) verbinden sich virtuos mit dem Spiel des Ensembles, dessen Mitglieder häufig von einer Rolle in eine andere springen müssen. Matthias Zajgier als Tom, Teresa Trauth als Ma (eine sanftmütige Mutter Courage), Béla Milan Uhrlau als Al, Sandra Schreiber als Rose, Ulrich Kielhorn als Pa, Maik Rogge als Jim Casy, Péter Polgár als Onkel John, Sarah Horak und Mara Amrita - sie alle agieren hochkonzentriert, verleihen Steinbecks bisweilen eher typenhaftem Personaltableau eine faszinierende Intensität. Sie erzählen vom Mut, der so müde wird, vom Verlust von Heimat und Identität, von fragilen Familienbanden, von Trotz und Zorn und Aufbegehren. Sie erzählen davon, was mit einem Kollektiv auf der Flucht geschieht, das nirgends ankommen darf.

Am Ende, wenn das Licht verlöscht, gibt es im Publikum einen Moment der Stille. Betroffenheit? Unbehagen? Nachdenklichkeit? Dann folgen Bravorufe und großer Applaus. Ein starker Theaterabend - und ein kluger Beitrag zur politischen Gegenwart.

Weitere Termine: 3., 6., 8., 9., 15., 22., 23. April - und dann bis 6. Juni. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.