Ingolstadt
Ein märchenhafter Liederabend

Christiane Karg und Gerold Huber begeistern das Publikum des Konzertvereins Ingolstadt

27.03.2017 | Stand 02.12.2020, 18:25 Uhr

Die Frau mit den vielen Gesichtern: Christiane Kargs Leidenschaft und der Nuancenreichtum ihres Gesangs ist kaum zu übertreffen. Wie eine Schauspielerin vertieft sie sich in die romantischen Lieder.

Ingolstadt (DK) Wie kann man nur einen Liederabend so beginnen? Mit dem letzten Lied, dem "Leiermann", aus Franz Schuberts tiefdepressivem Zyklus "Die Winterreise"? Diesem Ausflug in letzte Abgründe der psychischen Ausweglosigkeit, in die Eiszeit der Seele. Wie vermag man das, aus dem Stand heraus, ohne all die anderen, bewegenden, leidenschaftlichen, liebessüchtigen Lieder des Zyklus zuvor zu singen

Christiane Karg steht da auf der Bühne des Ingolstädter Festsaals, der Applaus brandet auf, aber sie wendet sich ab. Sie lächelt nicht, sie runzelt vielmehr angespannt die Stirn, konzentriert sich, sucht merklich nach einer anderen Stimmung, nach Gefühlen, die zunächst gar nicht in den warmen Konzertsaal passen mit seinem gut gelaunten, erwartungsfrohen Publikum. Dann singt sie - mit kalter Stimme, fast starr, mit fast unbewegter Tongebung. Bis mehr und mehr Emotionen aufleuchten und sie ganz am Ende, schon etwas leiser, wegdämmernd, die Frage stellt: "Wunderlicher Alter! Soll ich mit dir geh'n"

So eisig, so niedergeschlagen hat selten ein Liederabend begonnen. Aber die Schlussfrage ist auch eine passende Eröffnung für den Abend, eine Aufforderung weiterzuschreiten, zu anderen Liedern. "Es war einmal . . . Märchenhafte Sagenwelt" hat die Sopranistin das Konzert betitelt und dazu eine Mischung aus recht unterschiedlichen Liedern zusammengestellt, von Schubert über Robert Schumann bis hin zu Gustav Mahler und Hans Pfitzner. Es geht um Meerjungfrauen, Märchengestalten wie Hänsel und Gretel, verliebte Jünglinge, Zwerge, Erlkönige und Gespenster - klingendes, skurriles Figurenarsenal aus dem Herzen der Romantik.

Karg lässt sich an diesem Abend von Gerold Huber begleiten, der vor Jahrzehnten eine "kongeniale und symbiotische Partnerschaft" mit dem Bariton Christian Gerhaher eingegangen ist, wie das Programmheft erläutert. Mit genau diesem Sänger gastierte Huber bereits zu Beginn der Jubiläums-Spielzeit des Konzertvereins in Ingolstadt. Ein Vergleich der Konzerte bietet sich da an. Was zunächst auffällt: Wie anders Huber Christiane Karg begleitet. Sein Anschlag wirkt hier plastischer, extrovertierter als beim Liederabend mit Gerhaher. Huber schreckt nicht davor zurück, einzelne Töne herauszudonnern, den Steinway in den Zwischenspielen orchestral aufrauschen zu lassen. Das passt zum Stil von Christiane Karg.

Denn auch die Sopranistin geht höchst expressiv an ihre Aufgabe heran. Sie verlässt sich weniger auf ihr silbriges Timbre, als auf ihren Ausdruckswillen jenseits des bloßen Schönklangs. Unwillkürlich denkt man über die Bedeutung des Liedgesangs nach. Lieder seien keine Miniaturopern, sagt Christian Gerhaher, womit er sicher recht hat. Und doch: Wenn Christiane Karg Lieder singt, scheinen sich Dramen abzuspielen. Auffällig viele Lieder, die sie ausgewählt hat, sind musikalische Gespräche verschiedener Akteure. Und Christiane Karg unterscheidet die Figuren deutlich, durch Klangfarbe, Ausdruck, Gestus. Etwa bei Schuberts "Erlkönig", in dessen wenigen Zeilen der Vater, das Kind, der Erlkönig sowie ein Erzähler auftreten. Karg gibt jedem Sprecher eine eigene Färbung, dem Erlkönig eine schrille Tongebung, dem Kind einen hellen knabenhaften Tonfall, der Vater dröhnt tief, der Erzähler neutral. Das ist höchst spannungsgeladen und wirkt völlig natürlich. Im Laufe des Abends verwandelt sie immer wieder ihr Ausdrucksspektrum - von der vokal höchst differenzierten Detailarbeit bei Schubert, über Schumanns kecke Ironie, zu Pfitzners opernhaftem Impressionismus bis hin zum hintergründigen Volksliedton eines Mahlers.

Ein Teil der gewaltigen Faszination, die von dieser Sängerin ausgeht, ist auch die Art der Präsentation. Anders als andere Sänger, die eher in eine undefinierbare Ferne hinein singen, nimmt Karg mit dem Publikum Augenkontakt auf. Sie wendet sich den verschiedenen Gesichtern im Saal zu, als wenn sie eine freie Rede halten würde. Jeder Ton gewinnt dadurch an Überzeugungskraft, das Publikum fühlt sich unmittelbar angesprochen. Dabei scheint ihr die Sprache fast noch wichtiger zu sein als der Gesang. Ganz weit vorne artikuliert sie, als wären all die Konsonanten das Schlagwerk, das den vollmundigen Gesang akzentuieren würde. Die Zuhörer hängen an den Lippen dieser Sängerin, folgen ihr bei jeder Gefühlsregung, als wären sie Kinder, die einem Märchen lauschen. Die Karg ist zweifellos eine große musikalische Erzählerin. Nach dem letzten Lied des Abends von Mahler, "Wo die schönen Trompeten blasen", befreit sich das Publikum erst ganz langsam von der trübsinnigen Stimmung der Musik, um dann umso lautstärker die bedeutende Sängerin zu feiern.