Ingolstadt
Ein besonderes Raum-Klang-Erlebnis

Grandiose Hommage an die venezianische Mehrchörigkeit: Zürcher Sing-Akademie in Ingolstadt

24.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:27 Uhr

Mit Werken von Orlando di Lasso, Gregor Aichinger, Giovanni Gabrieli und Claudio Monteverdi gastierten die Zürcher Sing-Akademie und die Hofkapelle München in Maria de Victoria. - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Zumindest akustisch fühlte man sich fast vom barocken Ambiente der Ingolstädter Asamkirche Maria de Victoria nach Venedig in den Markusdom des frühen 17. Jahrhunderts versetzt, als die Zürcher Sing-Akademie, begleitet von der Hofkapelle München, formvollendet das dreichörige, feierlich-innige "Magnificat" von Giovanni Gabrieli anstimmte. Mit dem Konzert "Psallite Domino" war es Kulturförderer Karl Batz gelungen, die beiden hochkarätigen Klangkörper gemeinsam nach Ingolstadt zu holen; gleichzeitig gab der neue künstlerische Leiter des 2011 gegründeten exzellenten Schweizer Profichores, Florian Helgath, so sein Debüt in der bayerischen Heimat.

Festliche Sakralmusik um 1600, also aus der Übergangszeit zwischen Renaissance und Frühbarock, stand dabei in ihren verschiedenen Ausprägungen im thematischen Fokus - ausgehend von drei Vokalwerken des nahezu unbekannten, in Regensburg geborenen Komponisten, Ingolstadtstudenten und Fuggerorganisten Gregor Aichinger. Und seine Vertonungen bewiesen allesamt, dass sich der Lasso-Schüler vor seinen italienischen Vorbildern nicht zu verstecken braucht. Anfangs das "Dum rex gloriae", sich zunächst verhalten aufbauend, dann tröstlich-hoffnungsvoll in die Höhen aufschwingend, später "Regina coeli", eine eher stille, innere, aber dennoch intensive vokale Marienverehrung, sowie schließlich das engelsgleiche, solistisch durchsetzte "Duo Seraphim" überzeugten in ihrer Strahlkraft voll und ganz. Daneben durften die beiden damaligen "Fürsten der Musik" Lasso und Palestrina keinesfalls fehlen: der erste mit Auszügen aus seiner "Missa Bell' Amfitrit' altera", einer vertonten Huldigung an sein geliebtes Venedig, der zweite mit dem staunend anbetenden "O magnum mysterium" voll wechselnder Übergänge und schimmernder Klanggeflechte.

Eine weitere Facette der kirchenmusikalischen Klangpracht dieser Epoche, diesmal aus Deutschland, eröffneten zwei Weihnachtsmotetten von Hans Leo Haßler und Michael Praetorius. Beim doppelchörigen, freudig verkündenden "Angelus ad pastores ait" breitete sich fast schon Adventsstimmung aus, in "Puer natus in Bethlem" überraschte das Alternieren zwischen lateinischen und deutschen Texten, zwischen responsorischen solistischen und chorischen Abschnitten, immer wieder durchzogen von einem variierten triumphierenden Chorrefrain.

Innehaltende, berührend-besinnliche Ruhepunkte setzten die von Mitgliedern der Hofkapelle München (eines der wichtigsten Ensembles für historische Aufführungspraxis im süddeutschen Raum) wunderbar im Originalklang interpretierten Instrumentalstücke für Streicher und basso continuo, nämlich eine leidenschaftlich-ausdrucksstarke, affektvoll von Violinseufzern geprägte Sonata und eine schmerzlich-gefühlvolle Passacaglia, beide aus der Feder des unter anderem in Neuburg tätigen Barockkomponisten Biagio Marini.

Genauso packend lautmalerisch ausgedeutet präsentierte die Sing-Akademie Luca Marenzios deklamatorisch aufforderndes "Jubilate Deo": Da brauste das anschwellende Meer tatsächlich über die Zuhörer hinweg, und zum Rauschen der Flüsse wuchsen mächtige Berge empor. Ähnlich eindringlich, aber diesmal aufrüttelnd, ja geradezu mahnend, geriet "Lobe den Herren, meine Seele" von Heinrich Schütz als Zwiegespräch zwischen dem hochpräsenten Chor und einem äußerst homogenen Solistenquartett. Spätestens jetzt war wohl allen im Auditorium klar: Jeder einzelne dieser Chorsänger verfügt über herausragende solistische Qualitäten, zugleich jedoch auch über die unabdingbare Fähigkeit, sich stimmlich mühelos in den Chorgesamtklang einzufügen. Einzigartig, wie unglaublich sicher und präzise sich die Intonation des 32-köpfigen Gesangsensembles darbot, wie sich das ausgeprägte Gespür für den melodisch-sprachlichen Duktus, für das harmonische Gefüge der Phrasierungen im Kirchenraum entfaltete, wie das unerreicht volle, satt leuchtende Klangvolumen aufbrandete und wieder verebbte, wie die häufigen Takt- und Tempowechsel organisch fließend ineinander übergingen.

Das besondere Raum-Klang-Erlebnis der coro-spezzato-Praxis, also des Singens in geteilten Chören, einschließlich des damit verbundenen Respondierens und Dialogisierens samt Echo- und Kontrasteffekten, erzielte Chorleiter Florian Helgath allerdings nicht (wie in der Renaissance üblich) durch die Positionierung der einzelnen Sängergruppen an verschiedenen Standorten des Gotteshauses, sondern vielmehr durch eine immer wieder sich wandelnde Stimmzusammensetzung innerhalb der Choraufstellung, entsprechend den akustischen Erfordernissen des jeweiligen Satzes. So auch im letzten Stück, Monteverdis "Beatus vir". Es war dem jungen, dynamischen, feinsinnig agierenden Dirigenten, der erst kürzlich mit dem Echo Klassik Preis ausgezeichnet wurde, förmlich anzusehen, wie sehr ihn diese Musik begeistert.

Endlich entlud sich die über das gesamte Konzert angestaute Spannung in heftigem, lang anhaltendem Schlussapplaus. An diesem Abend wurde, wie einst die Musikmetropolen Venedig, Rom und München, nun auch Ingolstadt zum Zentrum für die hohe Kunst der Vokalpolyphonie.