Ingolstadt
Drama des hinkenden Knechts

Robert Seethaler liest in Ingolstadt aus seinem Roman "Ein ganzes Leben"

22.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:16 Uhr

Ins Gespräch vertieft: Der Literaturkritiker Eberhard Falcke unterhält sich mit dem Schriftsteller Robert Seethaler (rechts) - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Der Autor sei „kein Hansdampf in den Gassen des Literaturbetriebs“, habe weder bedeutende Literaturpreise erhalten noch Schreibschulen besucht und in seinem nun 48 Jahre währenden Leben von Beginn an „auf vielen Schauplätzen kämpfen“ müssen, meinte der Literaturkritiker Eberhard Falcke in seiner Einführung. Dennoch stehen die Bücher des Wiener Schriftstellers Robert Seethaler heute in den Bestsellerlisten ganz oben, Leser wie Kritiker feiern sie euphorisch.

Sein Auftritt in Ingolstadt war lange im Voraus ausverkauft. Am Donnerstag präsentierte er in der Werkstattbühne seinen Roman „Ein ganzes Leben“, als Rahmen führte Falcke ein Gespräch mit dem sympathisch bescheidenen Autor.

Der Roman „Ein ganzes Leben“ hat einen unspektakulären Protagonisten, den hinkenden Hilfsknecht Andreas Eggert zum Helden, als dessen Lebenszeit sich etwa die Jahre von 1898 bis 1975 erschließen lassen. Seethaler wählte Textpartien zu verschiedenen Stationen aus Eggerts Leben aus, die nicht chronologisch angeordnet waren: So ging es eingangs um eine skurrile episodische Begegnung des etwa 35-jährigen Knechts mit dem scheinbar sterbenden Ziegenhirten „Hörnerhannes“, danach um die Jahre zuvor erfolgte erste Begegnung Eggerts mit seiner großen Liebe Marie, um sein Anheuern bei der Firma Bittermann & Söhne, welche die ersten Seilbahnen ins bislang stille Tal bringt, und um die erste Begegnung des alten Eggert mit einem Fernsehgerät im Wirtshaus.

Seethaler liest diese Partien mit beeindruckender Präzision, jedem Protagonisten verleiht er eine charakteristisch eigene Stimme – dem Prokuristen der Baufirma, dem Holzhauer Thomas Mattl, oder dem jungen und dem alten Eggert. Fast schüchtern fragt der Autor die Zuhörer, ob sie noch eine Stelle von zehn Minuten „aushalten“ würden – als ob das Publikum nicht längst an Seethalers Lippen hinge, dessen Erzählstimme die Zuhörer in einen unentrinnbaren Sog zieht. Eher müsste man sich um den lesenden Autor sorgen, der aufgrund einer angeborenen Linsenluxation fast blind aufwuchs und heute mit einer Sehschwäche von minus 19 Dioptrien gehandicapt ist: Mehrfach greift er sich zur Nasenwurzel und macht Pausen.

Dass man diesen Abend zu den Sternstunden der 22. Ingolstädter Literaturtage zählen muss, liegt auch an dem zugleich sensiblen wie humorvollen und selbstironischen Gespräch, in das der Münchner Journalist Eberhard Falcke den Autor zieht. Der erzählt darin etwa, dass er als Schauspielschüler einst in Ingolstadt vorgesprochen hat („Aber ich war viel zu schlecht, viel zu naiv!“). Als Falcke auf Seethalers TV-Rolle als „Doktor Kneissler“ in der Serie „Ein starkes Team“ verweist, antwortet der Angesprochene unter Gebrauch von Austriacismen lakonisch „Dös muas ma obber ned gsehn hoam“. Das Schreiben sei ihm nie „ein Bedürfnis“ gewesen („Was soll ma denn sonst scho tun“), biete ihm aber auch „eine Sicherheit“. Falckes Frage, ob in der Figur Eggerts „auch eigene Erfahrungen eine Rolle spielen“, pariert er knapp mit „Na kloar!“, worauf Falcke lächelt: „Das war jetzt mal ein Beispiel für eine dumme Frage.“

Nach der Lesung dreht sich das Gespräch um Themen wie „Heimatroman oder nicht“ (Antwort: „In solchen Kategorien denke ich nicht. Dös is mir völlig wurscht!“) und um die Figur Eggerts, der permanent „Entwurzelungen“ erfährt, im Alter aber doch zufrieden auf sein Leben zurückblickt. Als Falcke wissen will, ob dieser Knecht eine „archaische, exemplarische Figur mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ ist, bekennt Seethaler zum Vergnügen des Publikums: „Dös kann ich doch ned sagen, ich hab’s ja geschrieben!“