Ingolstadt
Die Seele in den Fingerspitzen

Magische Töne: Der Geiger Sergey Khachatryan verzaubert das Publikum beim Eröffnungskonzert der Audi-Sommerkonzerte

01.07.2015 | Stand 02.12.2020, 21:07 Uhr

Romantische Hingabe: Der Geiger Sergey Khachatryan und das San Francisco Symphony Youth Orchestra - Foto: Sauer

Ingolstadt (DK) Garagen haben im Silicon Valley eine fast schon mystische Bedeutung. In den fensterlosen, unansehnlichen Bauten hatten legendäre Firmen wie Google, Apple, Microsoft, Hewlett Packard ihren Ursprung. Dort begann das digitale Zeitalter. Der wohl erfolgreichste amerikanische Komponist der jüngeren Generation, Mason Bates (Jahrgang 1977), hat 2014 über diese Gründerjahre ein Stück komponiert: „Garages of the Valley“. Mit ihm eröffnete das San Francisco Symphony Youth Orchestra die Audi-Sommerkonzerte im Ingolstadt Festsaal.

Bates’ Werk ist wie geschaffen für ein Jugendorchester. Es vermittelt den Elan, die Experimentierfreude der genialischen Computer-Generation, die Hektik, die Dynamik eines neuen Zeitalters, den skurrilen Charme von Computer-Code und Rechenpower. Und es fordert dem Orchester höchste Virtuosität ab: Es muss sich auf Mikrotonalität einstellen – also weitere Tonwerte spielen zwischen den bekannten Tönen des tonalen Systems – und geräuschhafte Klänge erzeugen.

So wirkt „Garages of the Valley“ zeitweilig wie eine Etüde, ein Übungsstück, an dem hungrige junge Musiker sich austoben können. Denn es kommt alles vor, was Orchestermusiker können sollten: dramatische Steigerungen, vertrackte Rhythmen, scharf voneinander abgesetzte schwelgerische Passagen neben abruptem Stakkato. Herausforderungen, die das Jugendorchester unter der Leitung von Donato Cabrera auf schier fantastischem Niveau meisterte. Ja, mehr als das: das Publikum mühelos in den Überschwang, den Optimismus des neuen amerikanischen Traums entrückte. Was für ein Auftakt der Jubiläumssaison!

Aber der Abend sollte sich noch steigern: mit dem Auftritt des Geigers Sergey Khachatryan. Aus unverständlichen Gründen ist der 30-jährige Armenier in der Szene immer noch kein Star, sondern eher ein Geheimtipp. Denn Khachatryan ist eine außergewöhnliche Begabung. Man hörte das bereits, als er das erste, elegische Solo im ersten Violinkonzert von Max Bruch spielte. Was für ein süffiger, den Saal ausfüllender, vibrato-satter Ton! Aber das war es nicht wirklich, was Khachatryans Spiel ausmachte. Es war eher die Hingabe, die man spürte. Der Armenier wandte sich mit einer Ernsthaftigkeit diesen wenigen Tönen zu, als wenn er etwas zelebrieren wollte, als würde er einen quasi religiösen Akt vollziehen. Dabei schien seine Seele in seinen Fingerspitzen zu stecken.

Khachatryan gehört zu den Geigern alter, romantischer Schule. Die Schönheit seiner Töne geht ihm über alles. So wirkten an diesem Abend die moderaten Passagen des Bruch-Konzerts überirdisch, besonders im langsamen Satz. Das berühmte Finale dagegen nehmen manche Geiger etwas ruppiger, charaktervoller, weniger weich-schwelgerisch.

Als Zugabe spielte Khachatryan ein ungewöhnliches, schlichtes Stück: ein armenisches Volkslied. Aber wie er es gestaltete, war einzigartig. Welcher Künstler vermag in so einfachen Tönen so viel Gehalt, so viel Atmosphäre, so viel Geschichte mitschwingen lassen? Dem jungen Geiger gelang es mit ein paar musikalischen Seufzern, einigen zart-verhauchten melodischen Entwicklungen im Publikum Bilder von Völkermord, Elend und hundert Jahren Not zu erzeugen. Das ist große Kunst.

Ein zartes Beben vor dem gigantischen musikalischen Naturereignis: der „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz, dem Abschluss des Eröffnungskonzerts. Auch hier zeigte das Jugendorchester aus San Francisco natürlich seine gewaltigen technischen Möglichkeiten. Und doch: Mehr als in den anderen Werken spürte man, dass junge Musiker im Alter zwischen 12 und 21 Jahren und nicht erfahrene Profimusiker agierten. Vielleicht bedarf es mehr Lebenserfahrung (und Orchestererfahrung), um in der fast rezitativischen Largo-Einleitung die Pausen mit Leben zu erfüllen, Sehnsucht und Liebeszweifel zu vermitteln. Und vielleicht auch ist man in diesem Alter noch nicht fähig, die Überspanntheit, die innere Raserei, den schrillen Irrsinn der Verliebtheit in den letzten beiden Sätzen glaubhaft zu machen. Was nicht bedeutet, dass die jungen Leute nicht ein eindrucksvolles orchestrales Tohuwabohu erzeugen konnten, dass sie nicht fantastische Bläser in ihren Reihen haben. Aber es wirkte zu optimistisch, zu brav, die Paukeneinbrüche zu milde. Das war kein höllisches Inferno, kein Totentanz im Liebesrausch. Sondern „nur“ ein brillantes philharmonisches Manöver.

Dennoch: Das Publikum tobte vor Begeisterung, und die jungen Musiker unter der Leitung ihres engagierten Chefs Donato Cabrera mussten noch drei Zugaben geben – zum Schluss das pfiffige, ein Uhrwerk imitierende Bläserstück „Musical Snuffbox“ von Anatol Liadov: Zeit, zum Ende zu kommen. Das Publikum schmunzelte.