Ingolstadt
Die Fundamente des Menschseins

Alexander Nerlichs "Dekalog"-Inszenierung wird im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt stürmisch gefeiert

07.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:20 Uhr

Als "Ein kurzer Film über die Liebe" ist Krzysztof Kieslowskis "Dekalog 6" auch bekannt: Tomek (Marc Schöttner) beobachtet Magda. Später wird er sich wegen ihr die Pulsadern aufschneiden. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Ein totes Kind. Ein gestohlenes Kind. Ein Mörder. Ein Stalker. Ein Selbstmörder. Schuld. Lügen. Eifersucht. Geheimnisse. Gleichgültigkeit. All das verhandelt der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski in seinem Filmzyklus "Dekalog" (1988/89). Zehn einstündige Filme, die über die Zehn Gebote reflektieren, ohne sie nachzubuchstabieren. Im Zentrum steht dabei eine anonyme Plattenbausiedlung im Warschau der 80er-Jahre. Film für Film zoomt sich Kieslowski in betongraue Wohnwaben und betrachtet hilflose Menschlein, wie sie an ihren (fragwürdigen) ethischen Fundamenten rütteln oder resignieren. Gott ist tot, der Sozialismus auch, die Hölle, das sind sie selbst. Längst gilt Kieslowskis Experiment als cineastisches Meisterwerk. Ein in jeder Hinsicht schwerer Brocken also, "Dekalog" auf eine Theaterbühne zu hieven. Alexander Nerlich hat es gewagt. Seine Fassung für sechs Schauspieler hatte am Donnerstagabend im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere. Nach drei Stunden gab es für diese hochintelligente, radikale, verstörende, packende Inszenierung und ein fantastisches Ensemble begeisterten Applaus.

Kieslowski greift sich Grundkonflikte heraus. Etwa in Dekalog 5, dem wohl berühmtesten der Reihe. Zweimal wird in diesem Film getötet. Zunächst ermordet ein junger Mann einen Taxifahrer - auf ungeschickt grausame Weise. Später wird er selbst getötet - eine saubere, legitimierte Exekution durch den Staat. Oder in Dekalog 2. Ein Arzt wird von seiner Nachbarin bedrängt, Auskunft über den Gesundheitszustand ihres kranken Mannes zu geben. Sie ist schwanger - von einem anderen Mann. Sie will das Kind nur behalten, wenn ihr Mann stirbt. Und fordert vom Arzt ein definitives Urteil über Andrzejs Leben. Oder Dekalog 7: Das Mädchen Maika entführt ein Kind. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass es ihr eigenes ist, aus einer Affäre mit ihrem Lehrer. Um einen Skandal zu vermeiden, hatte es die Mutter als ihr eigenes Kind ausgegeben. Maika will es zurück.

Solcherart sind die Dilemmata in Kieslowskis Filmen. Es geht um existenzielle Konflikte, Sehnsüchte und Abgründe, (emotionale) Grenzerfahrungen und -überschreitungen in verschiedenen Konstellationen.

Alexander Nerlich hat all die Einzelgeschichten zu einer so kompakten wie komplexen Geschichte verwoben. Oft reichen ihm nur wenige Skizzen, um die Konflikte zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Tochter darzulegen. Er setzt auf ausdrucksstarke Bilder und raffinierte Bühnenerfindungen. Wenn etwa Victoria Voss als Professorin zwei Kinderhände mit Kreide auf die Tischplatte zeichnet, versteht jeder sofort, dass in ihren Erinnerungen dort ein Kind sitzt. Ein Kind, dem sie die Zuflucht versagte und es wäh-rend des Zweiten Weltkriegs in den sicheren Tod schickte.

Grandios agiert das Ensemble - im Rollenspiel, als Bühnenhelfer, als Beobachter, als Erzähler, als Geräuschemacher und Chor. Denn auch das ist eine große Qualität von Nerlichs Inszenierung: Sie erzählt etwas übers Theatermachen, über Handwerk, Technik, Übersetzung, Bühnensprache. In Kieslowskis Filmen etwa spukt immer wieder ein junger Mann durchs Geschehen. Hier fährt er Fahrrad, dort trägt er einen Koffer. Er ist nicht Teil der Handlung, er beobachtet nur - mit scharfsinnigem Blick, stets irritierend. Nerlich hat ihn durch ein ganzes Korps Schwarzgekleideter ersetzt. Sie stehen für Tod und Angst, wecken Assoziationen zur Geheimpolizei oder sind einfach nur "die Anderen", Nachbarn, Voyeure, Komplizen aus der Hölle, die Gesellschaft, die Hilfe gewähren oder verweigern kann. Mira Fajfer, Victoria Voss, Jan Gebauer, Marc Schöttner, Enrico Spohn, Felix Steinhardt - sie alle spielen sensationell, nuanciert, wach, hochkonzentriert, beeindruckend.

Spektakulär ist Wolfgang Menardis Bühnenraum: eine Art verlassenes Versuchslabor, halbhoch gekachelt, mit Stock- und Schimmelflecken, in der Mitte eine lange Tafel (wie vom Letzten Abendmahl) mit geblümten, gemusterten, ausgebleichten Wachstuchtischdecken. Darauf: eine kleine beleuchtete Madonna, ein toter Schwan, ein Computer, Zivilisationsmüll. Überall Verfall. Vertrocknetes Laub. Religiöse Zeichen: links ein ewiges Licht, rechts ein Bild vom Papst, im Zentrum eine Tafel, die sich zum Triptychon aufklappen lässt und den Blick auf die Zehn Gebote von Lucas Cranach dem Älteren freigibt. Die Mitteltafel allerdings ist durch ein Schaufenster ersetzt und bietet so eine zusätzliche Spielebene.

Es ist ein Alptraum-Raum, durch den diese Menschen (schlaf)wandeln (Choreografie: Alice Gartenschläger). Hier kriechen Hände aus Wänden, platzen Personen aus Spinden, verschwinden andere hinter Matratzen. Und dazu ertönt dieses Grundrauschen aus Herzschlag- und digitalen Tönen, aus tropfendem Wasser und verwehter Musik - ein bedrohlicher Endzeit-Sound (Musik: Malte Preuß). Was könnte hier erforscht worden sein: Wo ist Gott? Oder: Was ist der Mensch? Klar ist: Die Arbeit ist längst eingestellt worden. Alexander Nerlich führt sie in seiner "Dekalog"-Inszenierung fort. Macht neue Versuchsanordnungen zum Thema Gott und Mensch, Wahrheit und Moral, Schuld und Sühne, Liebe und Tod, Rache und Gerechtigkeit. Und erntet nach drei Stunden stürmischen Applaus. Dieser Theaterabend ist ein Ereignis - und wirkt lange fort.

Weitere Termine: 9., 15., 16., 22., 23., 28., 29. und 30. April, 7. und 12. Mai. Telefon (08 41) 30 54 72 00.