Ingolstadt
Die Frau ohne Eigenschaften

Frank Wedekinds Tragödie "Lulu" am Stadttheater Ingolstadt mit einer verführerischen Sandra Schreiber in der Titelrolle

28.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:53 Uhr

Die Männer verfallen ihr reihenweise: Sandra Schreiber als Lulu in Wedekinds Tragödie. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Am Ende kommt es zur Katastrophe: Schweinemänner reißen der schönen Lulu das Herz aus der Brust. Das ist im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt mit morbider Schönheit von Frank Behnke inszeniert: Im Zeitlupentempo nähern sich die kahlen Unterhemdmänner mit schweineartigen Gesichtern der Tänzerin, besudeln das um Liebe und Geld flehende Mädchen mit Blut, bis sie verzweifelt um ihr Leben schreit - eine eher simple und brutale Perspektive auf den ewigen Geschlechterkrieg.

Aber sie passt zu dem Stück, das mit den Mitteln der Karikatur und der Überspitzung der Wahrheit auf die Spur kommt: Frauen sind in unserer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft liebreizende Monster, die Männer sind ihnen hoffnungslos verfallen und beherrschen sie zugleich grausam.

"Lulu" ist ein schwieriges Stück, weil es eine so entsetzliche Welt schildert. Weil es so schwer ist, sich mit diesen getriebenen, triebgesteuerten, gierigen, rücksichtslosen, gewalttätigen Personen zu identifizieren. Weil es mit Lulu eine Heldin in den Mittelpunkt stellt, die Opfer und Täterin zugleich ist, Engel und Männerfantasie - eine Frau ohne Eigenschaften. Die Männer des Stücks arbeiten sich an ihr ab, verfallen ihr, möchten sie missbrauchen, manipulieren und ausnutzen - und werden allesamt in den Abgrund gezogen von ihrer schillernden, ambivalenten Persönlichkeit.

Das Stück schildert in fünf Stationen den Aufstieg und Abstieg dieser wohl monströsesten Frauengestalt der Literaturgeschichte - scheinbar dirigiert von Männern, oder: zunächst von einem Mann, dem Verleger Dr. Schöning. Er hat Lulu als siebenjähriges sexuell missbrauchtes Blumenmädchen aus der Gosse aufgelesen, sie später an den greisen Dr. Goll verheiratet, bis dieser sie in flagranti beim Ehebruch ertappt und einem Herzinfarkt erliegt. Lulu heiratet den Ehebrecher, den gutmütig-ahnungslosen Eduard Schwarz, der, als er vom zweifelhaften Vorleben seiner Frau erfährt, den Freitod wählt. Dann endlich ehelicht Dr. Schöning Lulu. Aber selbst er ist der verführerisch-zügellosen Kindfrau nicht gewachsen, ihre sexuelle Freizügigkeit zermürbt ihn, er will sie in den Selbstmord treiben und wird von ihr erschossen. Der gesellschaftliche Aufstieg Lulus endet hier, nun wollen die verzweifelten Männer sie nur noch erpressen - Männer, die sich von ihr haben um den gesunden Menschenverstand bringen lassen, bis sie alle in der Gosse landen.

Regisseur Frank Behnke lässt Wedekinds "Monstretragödie" in sterilem Ambiente spielen, einer sich stark nach hinten verjüngenden, schwarzen, mit Neonlampen beleuchteten Szenerie. Ein kalter Ort (Bühnenbild: Sylvia Rieger), in dem sich große Gefühle nur schwer entfalten können, allenfalls die Musik von Malte Preuß versprüht gelegentlich Wärme.

Die Szenerie ist zeitlos, so wie Lulu auch eine ewige Frauengestalt ist, ein Konstrukt geheimer Männerwünsche, eine Projektion. Eine Frau, die immer so ist, wie die Männer sie sich vorstellen, die ihr deshalb jeweils einen eigenen Namen geben: Mignon, Eva, Nelli usw. Sie passt keineswegs nur ins plüschige Fin de Siècle, sondern ebenso gut auch in unsere Gegenwart, mit ihrer #MeToo-Debatte.

Sandra Schreiber spielt die Lulu großartig vieldeutig. Ständig schlüpft sie in neue, wunderbar von Ilka Meier gestaltete Kostüme und ist dabei so wandelbar, dass man am Ende kaum glauben kann, dass es sich um ein und dieselbe Figur handelt. Sie lässt sich wie eine Schaufensterpuppe auf die Bühne tragen, streckt kindlich-selbstverliebt ihre Arme dem Publikum entgegen, kokettiert, saugt die Blicke der Männer wie warme Sonnenstrahlen auf. Später mimt sie die vornehme Dame und die verruchte Tänzerin, bis sie schließlich wieder in der Gosse landet, stotternd, verwirrt, um ein kleines bisschen Liebe flehend. Eine überwältigende Leistung.

Die multiple Persönlichkeit der Lulu findet ihr Pendant in einer eindimensionalen Männerwelt. Hier spielt jeder nur eine Persönlichkeits-Facette aus: Peter Reisser als Dr. Goll den tattrigen, eifersüchtigen Lustgreis, Richard Putzinger als Maler Eduard Schwarz den besinnungslos verliebten, sexsüchtigen Mann, Matthias Zajgier als Alwa Schöning ist eine sarkastische Künstlernatur. Dr. Schöning (gespielt von Olaf Danner), der Lulu zu beherrschen glaubt, ist ein intriganter Machtmensch. Rodrigo (Jan Gebauer), der prollige Muskelmann, sucht Geld und nicht Liebe, und Schigolch (Ulrich Kielhorn) kommt als gutmütiger Onkel rüber. Sie alle sind großartig gespielte Charaktere und zugleich allesamt grässliche Typen - anrühren, mitreißen können sie kaum.

Anders steht es um die lesbische Gräfin Geschwitz, verkörpert von Ingrid Cannonier. Sie ist die vielleicht einzige, wirklich selbstlos liebende Person im Stück. Cannonier spielt die Verzweiflung, die naive Hingabe, die Unbedingtheit der unerwiderten Liebe zu Lulu wirklich herzerweichend: Ein Lichtblick in einer von Gewalt, Machtwille, sexueller Gier geprägten düsteren, bösen Welt. Freundlicher, aber gedämpfter Beifall nach der Premiere.

Weitere Vorstellungen: 3., 4., 10., 11. Februar sowie im März und April. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.