Ingolstadt
Die Acht-Minuten-Lesung

Peer Steinbrück nutzt seinen Auftritt bei den Ingolstädter Literaturtagen zum Gespräch mit den Zuhörern

17.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:17 Uhr

Von wegen knochentrocken: Peer Steinbrück punktete bei seiner Lesung in Ingolstadt mit viel Humor. - Foto: Zimmermann

Ingolstadt (DK) Eine wirkliche Lesung, wie man es im Rahmen der 22. Ingolstädter Literaturtage hätte erwarten können, war es nicht. Der Abend mit dem ehemaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) war für diejenigen, die gekommen waren, trotzdem zufriedenstellend, denn sie wurden Teil einer launigen Gesprächsrunde.

Ja, der Mann hat tatsächlich Humor. Was man Peer Steinbrück, dem auf den ersten Blick so knurrigen, versteiften und technokratischen Polit-Profi nicht zutraut, bewahrheitete sich während der knapp zwei Stunden, für die das SPD-Urgestein am Freitagabend in der Kurfürstlichen Reitschule in Ingolstadt zu Gast war. Wer in der Erwartung kam, dass der Mann, der für die Genossen 2013 als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf ging, eine ausführliche Lesung abliefern würde, der wurde enttäuscht. Ganze acht Minuten las er aus seinem Buch „Vertagte Zukunft – die selbstzufriedene Republik“. Stattdessen entwickelte sich eine launige und offene Gesprächsrunde, zunächst unter der Leitung von Knut Cordsen vom Bayerischen Rundfunk, später im direkten Frage-Antwort-Spiel mit den Zuhörern. Apropos Zuhörer: Die Entfremdung von der Politik von Teilen der Gesellschaft, eine Hauptthese Steinbrücks, spiegelte sich auch in der Zusammensetzung der Anwesenden wider: Neben einigen Damen und Herren mittleren Alters bildeten junge Leute die Ausnahme. Die Kopfhaarfarbe Grau dominierte.

So entwickelte sich vor rund 150 Gästen ein wilder Ritt durch zahlreiche politische Themen, teilweise inhaltlich angelehnt an Steinbrücks neues Buch, teilweise gänzlich losgelöst davon. Egal ob TTIP, die Ukraine-Krise, die deutsche Motz-Mentalität, der Dauerbrenner Griechenland oder die zunehmende Entpolitisierung – mit seiner für einen Spitzenpolitiker offenen, direkten und humorigen Art kam Steinbrück gut an. Das Publikum belohnte dies mit regelmäßigem Zwischenapplaus und deutlich vernehmbarem, zustimmendem Raunen.

Bei seiner Analyse der Wahlniederlage durfte selbstverständlich auch die Stinkefinger-Geste nicht fehlen. Es sei eine sehr schnelle und spontane Entscheidung gewesen, den Mittelfinger in die Kamera zu strecken. Steinbrücks Pressereferent habe ihn vehement von einer Veröffentlichung abhalten wollen, doch der Kanzlerkandidat wollte es anders. „Ganz ungeschminkt: Das Ding war ein Fehler“, sagte der 68-Jährige. Steinbrück outete sich als klarer Befürworter des umstrittenen Freihandelsabkommens TTIP und erkannte bei diesem Thema ein seiner Meinung nach grundsätzliches Problem der Deutschen: „Wir haben die Neigung, uns vorschnell über etwas zu empören. In diesem Fall ist das völlig absurd, denn es ist noch keine einzige Entscheidung getroffen worden. Diese Debatte auf dem Niveau der Chlorhühnchen zu führen, ist unterirdisch.“ Das saß, denn TTIP-Skeptiker gab es natürlich unter den Zuhörern zuhauf.

Die laut Steinbrück typisch deutsche Eigenschaft, dass jedes kleine Problem gleich zu einem Skandal hochstilisiert wird, machte er dem Publikum auf seine ganz eigene Art deutlich: „Wenn der Hund Ihres Nachbarn in Ihren Garten furzt, dann fordern Sie bestimmt sofort eine Änderung des Emissionsschutzgesetzes.“ Dieser heiter-kritische Grundton zog sich durch die gesamte Veranstaltung. Ob er amtsmüde sei, wollte Moderator Cordsen wissen. Steinbrück verneinte, nicht ohne Cordsen eine kleine Spitze mitzugeben. „Es gibt aber einen Zeitpunkt, da muss ich nicht mehr in jede Hose hineinspringen, die mir hingehalten wird. Deswegen wollte ich auch nicht mehr über die Stinkefinger-Geste reden, auch wenn Sie es versucht haben.“ Als ein Zuschauer bezogen auf Kleidungs- und Lebensmittelpreise wissen wollte, wann das mit der „billig billig billig Scheiße“ endlich einmal aufhöre, stimmte Steinbrück diesem zwar zu, gab aber zur Erheiterung der Anwesenden süffisant zu bedenken: „Ich würde selbstverständlich niemals Ihre Wortwahl benutzen, dafür bin ich viel zu sehr Diplomat.“

Eine Publikumsfrage, ob Demokratien zukünftig Whistleblower wie Edward Snowden benötigen würden, nutzte der SPD-Politiker für sein persönliches Schlussfazit: „Ich begrüße jeden, der Zivilcourage zeigt und Edward Snowden hat das getan. Demokratie braucht auch Leute, die dazu bereit sind, etwas zu tun, was nicht immer ganz regelkonform ist. Also mischen Sie sich ein!“